Klaus Magnus hatte sich Lilo manchmal in seinem großen weißen Haus vorgestellt. Jetzt wusste er, dass er damit Gabi gemeint hatte. Aber Gabi lebte nicht mehr.
»Vielleicht finden wir eine Mutti. Gibt es so etwas in Südafrika?« Es hörte sich an, als könnte man eine Mutti im Laden kaufen.
»Keine Ahnung, Klaus«, antwortete der Vater. »Möglich, dass wir Glück haben.«
Sie kehrten ins Herrenhaus von Sophienlust zurück, und Klaus Magnus nahm wie üblich am Abendessen der Kinder teil. Er war sehr beliebt, weil er großartig von Südafrika erzählen konnte. So hatte er sich voll und ganz in diese harmonische Welt eingelebt und ahnte nicht, wie einsam und verzweifelt Lilo Werner war.
*
Es war nur ein unbedeutender Unfall, doch der Arzt bestand darauf, dass Gerda Ahlsen eine Woche liegen blieb. Sie hatte sich im Institut den rechten Fuß vertreten. Mit bandagiertem Sprunggelenk lag sie nun auf der Couch, zu völliger Untätigkeit verurteilt.
Der Fuß schmerzte. Doch die Gedanken, die sie bisher sozusagen gewaltsam verdrängt hatte, waren quälender als die Verletzung. Ein neuer Brief von Arnulf Jörgens machte das nicht besser. Ich sollte ihm kurz und bündig schreiben, dass ich ihn nicht liebe und auch nicht heiraten werde, dachte sie. Doch es blieb bei diesem Vorsatz. Sie hatte keine Zeit zum Schreiben, denn ihre Gedanken beschäftigten sich Tag und Nacht mit Klaus Magnus. Je mehr der Fuß sich besserte, desto ärger wurden die Schmerzen in ihrer Brust.
Am Freitagnachmittag war sie dann so weit, dass sie bei der Auskunft die Telefonnummer von Lilo Werner in Bachenau erfragte. Es dauerte dann noch eine halbe Stunde, ehe ihr Gefühl den Sieg über ihren Stolz errang. Sie nahm den Hörer erneut in die Hand und wählte die Nummer.
Eine helle Kinderstimme meldete sich. »Hier ist Jochen Werner. Wer ist dort, bitte?«
»Ist deine Mutti zu Hause, Jochen? Ich bin eine Freundin von ihr. Kannst du dir meinen Namen merken? Ich heiße Gerda Ahlsen.«
»Ja, Gerda Ahlsen. Ich sag’s ihr.«
Der Hörer wurde niedergelegt, schnelle Schritte entfernten sich. Nach einer kleinen Weile erklang eine Frauenstimme.
»Gerda Ahlsen? Stimmt das? Hier ist Lilo.«
»Ja, Lilo. Wie geht es dir? Wahrscheinlich wunderst du dich über meinen Anruf.«
»Nun ja, wir haben seit Ewigkeiten nichts voneinander gehört.«
»So ganz trifft das nicht zu, Lilo. Ich habe vor einiger Zeit in München Klaus Magnus zufällig wiedergetroffen. Da müssten dir die Ohren geklungen haben. Er fragte nach Gabi. Ich glaube, die Nachricht von ihrem Tod ging ihm ziemlich nahe. Ich gab ihm deine Adresse, weil er dich besuchen wollte. Ich konnte ihm ja nicht allzu viel über deine Schwester berichten.«
Gerda wartete vergeblich auf eine Entgegnung von Lilo. Also fuhr sie fort: »Klaus und ich hatten verabredet, dass wir uns zu Hause bei meinen Eltern treffen. Leider kam Klaus dann nicht, obwohl wir es fest ausgemacht hatten. Es hätte so vieles zu erzählen gegeben.«
Auch jetzt blieb Lilo schweigsam.
»Es muss etwas dazwischengekommen sein«, setzte Gerda Ahlsen die einseitige Unterhaltung fort. »Hat Klaus sich bei dir gemeldet? Könntest du mir zufällig seine jetzige Adresse geben?«
Nun endlich äußert sich Lilo Werner. »Keine Ahnung, Gerda. Klaus Magnus war nicht hier. Möglich, dass er längst wieder abgereist ist.«
Lilo war fest entschlossen, eine zweite Begegnung zwischen Gerda Ahlsen und Klaus Magnus zu verhindern. Doch sie hatte nicht mit Jochen gerechnet, dessen klare Bubenstimme nun ertönte.
»Aber Onkel Klaus wohnt doch hier im Hotel, Mutti. Warum sagst du, dass er nicht bei uns war?«
Zu spät presste Lilo die Hand auf die Sprechmuschel. Gerda Ahlsen hatte die Worte des Jungen genau verstanden.
»Möchte Klaus nicht, dass man ihn findet, Lilo?«, fragte sie befremdet.
»Ich weiß es nicht, Gerda«, stieß Lilo unbeherrscht hervor.
»Schon gut, Lilo«, sagte Gerda mit seltsamer Ruhe. »Ich melde mich wieder einmal bei dir. Alles Gute.«
Damit war das Gespräch beendet. Es knackte in der Leitung. Lilo hatte aufgelegt.
Gerda Ahlsen legte sich auf der Couch zurück und schloss die Lider. Ihr Herz schlug sehr schnell. Damals war es Gabi gewesen, dem seine Liebe gehört hatte. War es jetzt Lilo?
Ihr Verstand ermahnte sie zu kühler Überlegung. Von ihrer Mutter hatte sie erst kürzlich erfahren, dass Lilo glücklich verheiratet war und zwei Kinder hatte. Dennoch flüsterte ihr eine unüberhörbare Stimme in ihrer Brust zu, dass sie in Gefahr sei, Klaus Magnus zum zweiten Mal in ihrem Leben an eine andere Frau zu verlieren.
Es geschah nicht augenblicklich. Ganz allmählich zerbröckelte das künstliche Gebäude aus Ehrgeiz und falsch verstandenem Stolz. Ich liebe ihn, gestand Gerda sich endlich ein. Mir ist alles gleichgültig. Ich will ihn wenigstens noch einmal sehen.
*
Jochen war in strahlender Laune. Er trug seinen besten Anzug und hatte sich das Haar beim Kämmen nass gemacht, sodass er beim Frühstück wie eine gebadete Maus aussah.
Auch Siegfried Werner war guter Dinge, wenn er sich auch bemühte, das vor Lilo nicht allzu deutlich zu zeigen.
»Wollt ihr etwas zu essen mitnehmen?«, fragte Lilo.
»Danke, nicht nötig, Lilo. Mach dir nur keine Mühe.«
»Vergiss heute Abend nicht, dir die Zähne zu putzen, Jochen«, ermahnte sie den Jungen.
»Klar, Mutti. Das geht in Ordnung. Schaust du nach meinen Tieren?«
»Sicher, Jochen.«
Der Vater mahnte zum Aufbruch. Lilo holte Jochens Waschlappen und putzte ihm liebevoll den Mund ab. Ihr war sterbenselend zumute.
»Kommt morgen nicht zu spät zurück«, bat sie mit erstickter Stimme. »Sonst kriege ich Jochen am Montag früh nicht aus dem Bett.«
»Keine Sorge. Wir sind rechtzeitig wieder da, Lilo«, versicherte ihr Mann hastig. »Auf Wiedersehen.«
Mit tränenblinden Augen stand Lilo vor der Haustür, als der Wagen abfuhr. Es ist aus, dachte sie mutlos und voller Bitterkeit. Ich werde ganz allein sein. Wozu lebe ich überhaupt noch? Niemand braucht mich. Mit einer Frau wie Rita Hellmann kann ich mich natürlich nicht messen. Ihr gelingt alles – mir gar nichts. Sie wird Jochen verwöhnen und mit Geschenken überschütten. Es ist nicht schwer, ein Kinderherz zu betören.
Lilos Füße waren bleischwer. Nur mit Mühe raffte sie sich auf, den Tisch abzuräumen und in der Küche Ordnung zu schaffen. Schließlich stieg sie die Treppe hinauf und richtete die Betten.
Ich muss endlich mit Klaus sprechen. Ich ertrage die Ungewissheit nicht mehr, dachte sie. Wenn ich noch eine Woche vergeblich warte, verliere ich den Verstand.
Sie ging zum Telefon und wählte die Nummer seines Hotels. Diesmal erreichte sie eine liebenswerte Sekretärin, die ihr ungefragt Auskunft erteilte. »Herr Magnus ist fast nie im Hause, gnädige Frau. Wenn Sie ihn dringend erreichen wollen, rufen Sie bitte im Kinderheim Sophienlust an. Er ist dort täglich bei seinem kleinen Sohn. Die Nummer kann ich Ihnen geben.«
Lilo dankte ihr. Sie besitze die Nummer und werde es dort versuchen.
In Sophienlust also. Die Auskunft war für Lilo verwirrend. Offenbar lehnte Klaus seinen Vater jetzt nicht mehr ab. Wäre dieser sonst ständig bei ihm?
Der Junge ist ihm wichtiger als ich, überlegte Lilo weiter. Er hätte mir wenigstens Nachricht geben müssen. Natürlich werde ich nicht in Sophienlust anläuten. Ich habe nicht die geringste Lust, mit Frau von Schoenecker zu sprechen.
Lilos Verhältnis zu dem kleinen Sohn ihrer verstorbenen Schwester war stets von Ablehnung überschattet gewesen. An diesem Samstagmorgen aber hasste sie