Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman


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gefällt mir dort nicht«, erklärte Evi. »Die Tante ist so streng, und die anderen Kinder sind älter als ich. Bitte, erzähl mir noch etwas von Waldi und Hexe und Pucki und Purzel.«

      Betti erfüllte dem Kind gern diesen Wunsch. Ihre Schilderung war so farbig, dass Evi wie gebannt lauschte.

      »So, jetzt muss ich mich aber fertig machen zum Aussteigen«, sagte Betti nach geraumer Zeit. »Beinahe hätte ich übersehen, dass die nächste Station Maibach ist.«

      »Du steigst schon aus? Schade. Steigen wir auch aus, Mami, oder fahren wir noch weiter?«

      »Wir müssen noch weit fahren«, erklärte Evis Mutter.

      »Schade«, wiederholte Evi. »Ich hätte dir noch stundenlang zuhören können«, wandte sie sich wieder an Betti. »Wie heißt du eigentlich?«

      »Betti.«

      »Auf Wiedersehen, Betti. Vielleicht …, vielleicht treffen wir uns wieder einmal. Meinst du nicht?«

      »Ich weiß nicht …« Betti hielt diese Möglichkeit für wenig wahrscheinlich, doch das wollte sie dem Kind nicht sagen. Sie verabschiedete sich nun auch von der Mutter und griff nach ihrem kleinen Koffer. Dann verließ sie das Abteil und trat auf den Gang hinaus.

      Betti machte zunächst ein paar Schritte in Richtung des vorderen Ausgangs, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie befand sich im vordersten Waggon des Zuges. Deshalb würde es beim Einfahren in die Station für sie günstiger sein, den hinteren Ausstieg zu benützen. Sie würde ohnehin noch ein Stück zurückgehen müssen, um zum Ausgang des Bahnhofes zu gelangen. Deshalb ging sie jetzt gleich nach hinten, um dort auszusteigen.

      »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen, Betti!«

      Betti drehte sich um. Evi war es irgendwie gelungen, die Tür des Abteils zu öffnen. Sie stand auf dem Gang und winkte der neugewonnenen Freundin nach. Sie sah ein wenig traurig aus, und schien drauf und dran, Betti zu folgen.

      »Auf Wiedersehen, Evi. Nein, du darfst mir nicht nachlaufen. Ich steige gleich aus. Geh zurück zu deiner Mutti ins Abteil!«

      Betti konnte nicht mehr erkennen, ob Evi dieser Aufforderung nachkam. Im gleichen Augenblick, als sie sie aussprach, ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen. Betti wurde zu Boden geschleudert und wusste nicht mehr, wo sie sich befand. Ein paar Sekunden später rappelte sie sich jedoch wieder auf. Einen Moment lang fühlte sie überhaupt nichts, doch dann machte sich ein tobender Schmerz in ihrem rechten Schienbein bemerkbar. Sie blickte an sich herab und sah, dass ihre Strumpfhose zerfetzt war und an ihrem Bein Blut herabfloss. Sie biss die Zähne zusammen und murmelte: »Nur nicht ohnmächtig werden. Was mag nur geschehen sein?«

      Vorsichtig trat Betti mit dem rechten Fuß auf. Obwohl er höllisch schmerzte, war ihr sofort klar, dass er nicht gebrochen sein konnte, denn sie konnte ihn belasten.

      Betti fuhr sich über die Stirn. Um sie herum herrschte ein wüstes Durcheinander. Die Scheiben der Fenster und Abteiltüren waren zerbrochen, die Rahmen verbogen, das Holz zersplittert.

      »Ein Zugunglück. Der Zug muss mit einem anderen zusammengestoßen sein«, sagte Betti ein paarmal leise vor sich hin. Sie vermochte nicht zu fassen, dass ihr so etwas zugestoßen war.

      Die gellenden Schreie, die unaufhörlich aus einem der zerstörten Abteile drangen, brachten Betti in die Wirklichkeit zurück. Da drinnen gab es Verletzte, die sich allem Anschein nach nicht selbst befreien konnten. Sie musste versuchen, ihnen zu helfen.

      Betti bemühte sich erfolglos, eine aus den Angeln gehobene Tür, die verklemmt war, beiseitezuschaffen. Ihre Kraft reichte dazu einfach nicht aus. Und dann hörte sie plötzlich etwas, was sie augenblicklich von den Schreien ablenkte. »Mami, Mami«, schluchzte ein verzweifeltes Stimmchen.

      Evi! Das konnte nur Evi sein, die Kleine, mit der sie sich eben unterhalten hatte.

      Betti brauchte nicht lange zu suchen. Das Kind saß unweit von ihr auf dem Boden und blickte mit weit aufgerissenen Augen starr vor sich hin.

      Betti eilte auf Evi zu und stolperte dabei über ihren Koffer, der ihr vorhin aus der Hand gefallen war. Sie griff nach dem Kind und hob es hoch.

      »Evi! Mein kleiner Liebling!« Ängstlich betrachtete sie die Kleine. Nein, Evi schien unverletzt zu sein. Es war beinahe ein Wunder.

      »Tut dir etwas weh?«, fragte Betti trotzdem besorgt.

      Das Kind sah sie an, aber seine Blicke schienen durch sie hindurchzugehen.

      »Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin es, Betti.«

      »Betti«, wiederholte Evi tonlos, doch dann kehrte die Erinnerung langsam zurück. »Ja, du bist Betti. Du hast mir von Waldi erzählt, und dann wolltest du aussteigen. Warum …, warum bist du jetzt hier? Was war das, der Krach …, und …«

      Betti drückte Evi an sich und strich ihr über das dunkle Köpfchen. »Dir ist nichts geschehen«, flüsterte sie dabei.

      Evi hob den Kopf. »Da schreit jemand. Hörst du es?« Sie schauderte zusammen. »Mami? Ist das Mami? Wo ist meine Mami? Mami! Mami!« Die Stimme des Kindes steigerte sich, es brüllte nun beinahe.

      »Vielleicht ist deine Mami schon draußen auf dem Bahnsteig«, sagte Betti, obwohl sie wenig Hoffnung hatte, dass diese Vermutung zutraf. Doch auf alle Fälle wollte sie den Zug verlassen. Sie konnte nicht verantworten, mit dem Kind länger hierzubleiben.

      Die lauten Schreie waren plötzlich verstummt. Dafür vernahm Betti von woanders ein dumpfes Stöhnen. Nein, sie konnte das nicht länger ertragen. Sie war zu schwach, um zu helfen. Ihre vordringliche Aufgabe war es, das Kind von hier wegzubringen.

      Betti stolperte mit dem Kind auf dem Arm aus dem Zug, hinaus auf den Bahnsteig. Dort standen die Passagiere der hinteren Waggons, die unverletzt zu sein schienen.

      »Eine Weiche war falsch gestellt«, hörte Betti jemanden sagen.

      »Der vorderste Wagen ist arg zugerichtet. Ob da noch jemand drin ist?«

      »Ja«, sagte Betti, »ich habe gehört, dass jemand geschrien hat.«

      »Wir müssen nachsehen, ob wir etwas tun können«, sagte ein Mann entschlossen. Ein paar andere folgten ihm.

      Bettis Blick irrte auf dem Bahnhof hin und her, aber Evis Mutter konnte sie nirgends entdecken. Nun eilten Polizisten, Ärzte und Feuerwehrleute herbei und machten es ihr unmöglich, das Gewirr zu überblicken. Sie stand wie betäubt da und hielt Evi noch immer fest an sich gepresst.

      »Sie sind verletzt! Halten Sie sich bereit. Wir werden Ihre Wunde dann versorgen. Vorher muss ich sehen, ob es dringendere Fälle gibt.« Ein Arzt war an Betti vorbeigeeilt und hatte ihr diese Worte zugerufen.

      »Mami! Ich möchte zu meiner Mami«, weinte Evi.

      Ein vorüber kommender Polizist blieb kurz stehen und sagte zu Evi: »Was willst du denn? Du bist ja bei deiner Mami.«

      Noch bevor Betti den Irrtum aufklären konnte, war der Polizist schon wieder weg. »Weine nicht, Evi«, tröstete sie das Kind. »Sieh doch die vielen Polizisten und Rettungsmänner. Es kann nicht mehr lange dauern, bis deine Mami gefunden ist.«

      Betti musste sich sehr zusammennehmen, um die Furcht, die sie nicht losließ, vor dem Kind zu verheimlichen. Allem Anschein nach war es Evis Mutter nicht gelungen, sich aus den Trümmern zu befreien.

      Betti sah angstvoll zu dem zerstörten Waggon hinüber. Dabei erkannte sie, was die Ursache des Unglücks gewesen war. Der Zug, in dem sie sich befunden hatte, war auf eine Draisine aufgefahren. Nur der erste Waggon war arg mitgenommen. Die anderen hatten den Zusammenprall heil überstanden.

      »Da, da bringen sie jemanden«, rief Evi und zeigte auf zwei Männer, die eine Bahre trugen, auf der eine verhüllte Gestalt lag.

      »Es ist ein alter Mann«, hörte Betti jemanden erzählen. »Er ist verblutet.«

      Betti wandte sich erschüttert ab. Sie wusste, sie musste sich nach Evis Mutter erkundigen, doch sie schreckte vor dieser Frage