atmete schwer, denn sie ahnte, dass es fast unmöglich sein würde, Antwort auf alle diese Fragen zu finden. Derjenige, der Anja so maßlos erschreckt hatte, musste wissen, dass sie nicht sprechen konnte. Doch was wollte er mit seiner Gemeinheit bezwecken?
Frau Dr. Frey meldete sich, und Denise bat die Ärztin, so bald wie möglich nach Sophienlust zu kommen.
»Jetzt kann gar nichts mehr schiefgehen«, flüsterte sie dem Kind zu, das jetzt müde und entspannt in ihren Armen lag. Dann schloss es erschöpft die Augen.
Denise setzte sich mit Anja in den großen bequemen Sessel am Fenster und beobachtete das Kind sorgenvoll. Anja war vor Erschöpfung eingeschlafen. Wie gern wollte sie dem bedauernswerten Mädchen helfen. Doch was konnte sie tun? Die Hoffnung der Ärztin, dass Anjas Fähigkeit zu sprechen zurückkehren würde, hatte sich zerschlagen. Oder war es dafür noch zu früh?
*
Hans Strasser summte leise vor sich hin, während er ein hübsches Kleidchen und einige Süßigkeiten in ein buntes Papier einschlug.
»Bist du fertig?« Marina betrat ungeniert die Junggesellenwohnung. Sie hatte den Vormittag beim Friseur, bei der Massage und im Schönheitssalon verbracht und sah in dem neuen modischen Sommerrock und der farblich dazu passenden Bluse überraschend gut aus.
Hans war jedoch so sehr mit seinem Päckchen beschäftigt, dass er das überhaupt nicht bemerkte. »Wir fahren noch rasch nach Sophienlust«, rief er Marina über die Schulter zu.
»Das darf doch nicht dein Ernst sein!«
»Es wird uns nur einige Minuten aufhalten.« Hans lächelte vergnügt. »Ich habe eine kleine Überraschung für Anja. Und ich möchte ihr Gesichtchen sehen, wenn sie auspackt.«
»Ich aber nicht«, erwiderte Marina kalt. »Ich möchte pünktlich bei der Modenschau sein. Du hast mir auch versprochen, dass …«
Hans nahm das Mädchen zärtlich in den Arm. »Wir werden pünktlich sein«, versprach er fröhlich.
»Hast du überhaupt schon bemerkt, dass …« Marina lehnte sich an ihn und sah ihn lauernd an.
»O ja, du hast ein neues Parfüm!« Hans kam sich reichlich dumm vor. Eigentlich waren seine Gefühle für Marina längst abgekühlt. Trotzdem ging er weiter mit ihr aus. Er war einfach zu gutmütig, um ihr zu sagen, dass er seine Absicht, Marina zu heiraten, aufgegeben hatte.
»Stimmt ja gar nicht«, empörte sich die rotblonde junge Dame. »Ich habe ein neues Make-up, eine neue Frisur, neue Kleider und neue Schuhe. Aber du bist zu dumm, um das zu sehen.« Marina war wütend. Niemals würde sie verraten, dass sie, wenn Hans Dienst hatte, mit dem flotten Dieter verabredet war. Er interessierte sich weniger für so kleine Mädchen wie Anja, dafür aber umso mehr für größere.
»Entschuldige«, sagte Hans verwirrt. Tatsächlich war ihm Marinas Eitelkeit schon so zuwider, dass er die junge Dame kaum ansehen mochte.
»Du magst mich eben nicht mehr«, meinte das Mädchen und hatte dabei den Wunsch, genau das Gegenteil zu hören. Trotz des Flirts mit dem flotten Dieter wollte es den treuen, zuverlässigen Hans auf keinen Fall aufgeben. Bei ihm war Sicherheit. Außerdem war er so gutmütig, dass er ihr die Liebelei mit dem anderen sicher gönnte.
Hans Strasser fühlte den Stich in seiner Brust recht deutlich. Das war die Gelegenheit, Marina zu erklären, dass sie nicht zusammenpassten und dass es besser war, wenn künftig jeder seiner eigenen Wege ging. Doch wieder einmal war er, der in seinem Beruf so tüchtig und unerschrocken war, zu feige. Er sah die hellen Augen des Mädchens erwartungsvoll auf sich gerichtet und brachte es einfach nicht fertig, Marina so hart zu enttäuschen.
»Du bist immer so schick, dass eine Steigerung einfach nicht möglich ist. Und deshalb fällt sie auch nicht so auf«, sagte er und machte sich rasch an seinem Paket zu schaffen. Marina jetzt anzusehen, wäre ihm sehr peinlich gewesen.
»Mit anderen Worten, ich gefalle dir«, freute sich die junge Dame.
»Hm.«
»Wir müssen uns beeilen.« Marina griff nach ihrer modischen Tasche, und Hans ging gehorsam hinter ihr zum Auto. Es war schon düster, als die beiden in Sophienlust eintrafen. Der Park lag ruhig und verlassen. Auch auf dem Spielplatz war kein Kind mehr.
»Ich werde rasch ins Haus gehen«, sagte Hans und griff nach seinem Päckchen.
»Und ich komme mit, damit du dich nicht zu lange aufhältst.« Marina stieg ebenfalls aus.
Von Frau Rennert erfuhr das Paar, dass sich Anja verletzt und Frau Dr. Frey ihr ein Beruhigungsmittel gegeben hatte.
Hans eilte die Treppe hoch und lief zu den Schlafzimmern. Recht genau wusste er, wo das kleine Mädchen zu finden war.
Anja lag in ihrem Bettchen, hatte Stupsi, den zottigen Teddy, im Arm und sah zweifelnd auf die vielen Herrlichkeiten, die ihr die Kameraden geschenkt hatten und die jetzt auf ihrem Nachttisch lagen. Da gab es Spielsachen, Bücher und Blumen. Pünktchen hatte ihr sogar eine Perlenkette geschenkt, die sie selbst geknüpft hatte.
Obwohl die Kinder von Sophienlust den Grund für Anjas Verbleiben im Bett nicht kannten, hatten sie doch sofort gesehen, dass die Kleine sehr, sehr traurig war. Um sie zu trösten, hatten sie ihr lauter Dinge geschenkt, von denen sie annahmen, dass sie Anja Freude machen würden.
Ganz anders reagierte Marina, die hinter Hans ins Zimmer kam. In ihr stieg eiskalte Wut auf, als sie das hilflose Geschöpf sah.
Längst wusste Anja, dass es Onkel Hans gut mit ihr meinte und dass er sie gernhatte. Deshalb hing sie auch mit zärtlicher Liebe an dem Polizisten. Als sie ihn erblickte, wurden ihr das Leid und die Angst des Nachmittags wieder bewusst. Sie fühlte wieder den harten Griff im Nacken, hörte erneut die hasserfüllte Stimme, die schreckliche Dinge zu ihr sagte.
Angstvoll streckte Anja die Ärmchen aus, klammerte sich gleich darauf an Strassers Hals. Wie gern wollte sie ihm alles erzählen. Ihm, der ganz bestimmt dafür sorgen würde, dass der böse Mann nicht wiederkam. Anja keuchte. Sie bemühte sich voller Verzweiflung, Töne hervorzubringen. Doch alle Anstrengung war vergebens.
Hans Strasser schloss das Kind innig in seine Arme. Er spürte sofort, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste, dass Anja ihn brauchte.
»Sei ganz still, Anja, mein Liebes. Ich weiß, dass sie dich erschreckt haben. Doch das soll nicht mehr vorkommen. Wir werden schon dafür sorgen.« Unwillkürlich ballte er beide Hände zu Fäusten. Wer hatte dieses arme, hilflose, unschuldige Kind so eingeschüchtert? Mit diesem Schuft wollte er abrechnen! Irgendwann würde er ihn erwischen. Dann gnade ihm Gott!
Anjas kleine Finger krallten sich in Strassers Haut.
»Keine Angst, Anja, ich bleibe bei dir«, murmelte der Polizist und streichelte sanft den Rücken des Kindes.
»Täusche dich nicht, kleine Komödiantin«, sagte Marina gehässig. »Dein Onkel Hans fährt nämlich mit mir zur Modenschau. Er hat überhaupt keine Zeit für dich. Im Übrigen musst du dich daran gewöhnen, künftig weniger verhätschelt zu werden. Hans ist diese Süßholzraspelei schon lange leid.«
Das Kind in Strassers Arm zitterte fühlbar. Es war eindeutig, dass Anja jedes dieser gemeinen Worte verstanden hatte.
»Wie kannst du nur so etwas sagen?«, zischte Hans. »Und ausgerechnet jetzt. Siehst du denn nicht, dass Anja traurig ist?«
»Ein verwöhntes, verzogenes Gör ist sie, das verrückt spielt, um sich wichtig zu machen! Mittelpunkt will sie sein, das ist alles.«
»Marina, bitte, sei still! Das ist doch alles nicht wahr«, flehte Hans Strasser. Es tat ihm unsagbar weh, dass Anja diese Schmähungen mit anhören musste. »Ich habe dich ganz, ganz lieb«, raunte er der Kleinen ins Ohr. »Und ich will, dass wir immer gute Freunde sind.«
Hans Strasser hatte gehofft, dass Marina diese leisen Worte nicht verstanden habe. Doch ihre Reaktion zeigte, dass er sich getäuscht hatte. Spöttisch verzog sie den Mund und ließ ein gurrendes Lachen hören.