Dr. Gröger und fragte sehr sachlich: »Gibt es in Ihrer Familie jemanden, der schlecht sieht oder sehr schlecht gesehen hat? Ein entfernter Onkel vielleicht?« Meine Mutter und ich verneinten, beide gleichermaßen verunsichert. Was sollte diese Frage? Es ging hier doch um mich.
Die nächste Aussage fiel meinem Augenarzt spürbar schwer. »Es hilft ja auch nicht, um den Brei herumzureden …«, murmelte er. »Es ist Retinitis pigmentosa«, sagte er dann hastig. Häh? Was ist das? Das hatte ich noch nie gehört. Ernst und sehr ruhig erklärte Dr. Gröger uns, dass Retinitis pigmentosa eine sehr seltene degenerative Erkrankung der Netzhaut ist. Sie ist genetisch bedingt, ist fortschreitend und man kann sie nicht heilen. Man kann diese Erkrankung noch nicht einmal behandeln. Man kann gar nichts machen. In meinen Kopf dröhnte das Echo der Wörter: Erbkrankheit … fortschreitend … unheilbar … Ich erstarrte. Nach langen Augenblicken war mein erster klarer Gedanke: »Scheiße, jetzt werde ich blind.« Als Nächstes dachte ich: »So ein Blödsinn! Es gibt doch gar keine Krankheit, die man nicht behandeln kann. Wenn das in Deutschland so ist, dann gibt es ja noch die ganze Welt. Es kann überhaupt nicht sein! Ich bin ja mal die Allerletzte, die eine so beschissene Krankheit bekommt!«
Meine Mutter und ich verließen die Praxis mit einem Rezept für ein Vitaminpräparat und einer Überweisung in die Uniklinik zur weiteren Abklärung. Ich fasste in diesem Moment einen Plan: Ich werde nicht blind! Ich würde den Augenärzten zeigen, dass man doch was machen kann! Ich hatte auch einen Plan B: Wenn ich blind werde, dann nehme ich mir das Leben.
Meine Mutter und ich standen uns im dunklen Novembernieselregen gegenüber. Sie weinte und sagte voller Zärtlichkeit: »Dörte, komm mit zu uns.« Ich schüttelte den Kopf und sagte leise: »Nein, Mama, ich will zu Felix.«
Ich tappte zurück zum Pinneberger Bahnhof. In nur zwanzig Minuten war ich in der Hamburger City, bald darauf in meiner WG in Eimsbüttel. Meine Mitbewohnerin Laura und ihr Freund Nick empfingen mich. Sie setzten sich mit mir in die Küche und hörten zu. Nick bot uns Zigaretten an. Wir rauchten. Ich hatte lange keine Zigarette geraucht, aber das war jetzt alles egal. Verena, unsere strenge Hauptmieterin, kam kurz danach in die Wohnung. »Seid ihr jetzt von allen guten Geistern verlassen«, begann sie wegen des Zigarettenrauchs in der Wohnung laut zu zetern. Dann sah sie uns bedröppelt um den Küchentisch sitzen und verstummte. Sie blickte fragend in mein Gesicht. »Ich werde blind«, sagte ich tonlos und sie nahm mich in den Arm.
Felix war an diesem Abend wie jeden Donnerstag beim Tischtennistraining. Einmal in der Woche Tischtennis und hinterher ein Bier war gerade noch vereinbar mit seinem Mathe- und Physikexamen. Ich versuchte, ihn überall zu erreichen. Handys gab es ja noch nicht. Der Wirt der Kneipe neben der Sporthalle informierte Felix schließlich, dass ich ihn brauchte. Er wusste sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste und dass es dringend war. Es war so gut, dass er kam, denn in seinen Armen fühlte ich mich geborgen und konnte endlich weinen.
Auch Felix weinte und sagte: »Wir machen eine Weltreise. Dann kannst du alles noch anschauen.«
»Und dein Examen?«, schniefte ich.
»Das mache ich danach fertig.«
Seine Reaktion war wunderbar. Nur wenige Stunden zuvor hätte ich alles stehen und liegen lassen, um mit ihm auf Weltreise zu gehen. Aber was für eine unendlich traurige Weltreise würde das sein? Ich würde alles mit dem Gedanken anschauen, dass ich es nie wieder sehen könnte. Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte kämpfen!
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