Charles Dickens

David Copperfield


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Ed­ward, ich kann das nicht er­tra­gen. Wie ich auch im­mer sein mag, ich bin nach­gie­big und dank­bar. Ich weiß, ich bin es, bin nach­gie­big und dank­bar. Ich wür­de es nicht sa­gen, wenn ich es nicht ge­wiss wüss­te. Frag nur Peg­got­ty. Sie wird es ge­wiss be­stä­ti­gen.«

      »Blo­ße Schwä­che fällt bei mir nicht ins Ge­wicht, Kla­ra«, ent­geg­ne­te er. »Du ver­schwen­dest nur dei­ne Wor­te.«

      »Komm, lass uns wie­der gut sein«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Ich könn­te nicht le­ben in Käl­te und Un­freund­lich­keit um mich her­um. Es tut mir so herz­lich leid. Ich habe sehr vie­le Feh­ler, ich weiß, und es ist sehr gut von dir, Ed­ward, dass du mit dei­nem star­ken Cha­rak­ter dir Mühe gibst, mich zu bes­sern. Jane, ich will dir nicht mehr wi­der­spre­chen. Es wür­de mir das Herz bre­chen, wenn du nur dar­an däch­test, uns zu ver­las­sen –« mei­ne Mut­ter konn­te nicht wei­ter­spre­chen vor lau­ter Rüh­rung.

      »Jane Murd­sto­ne«, sag­te Mr. Murd­sto­ne zu sei­ner Schwes­ter, »har­te Wor­te sind zwi­schen uns sel­ten. Es ist nicht mei­ne Schuld, dass heut abend ein so un­ge­wöhn­li­ches Er­eig­nis statt­ge­fun­den hat. Ich wur­de von je­mand an­ders dazu ge­bracht. Aber es ist auch nicht dei­ne Schuld, auch dich hat je­mand in eine schie­fe Lage ge­bracht. Wir wol­len bei­de trach­ten, es zu ver­ges­sen. Und da dies«, füg­te er nach die­sen groß­mü­ti­gen Wor­ten hin­zu, »kein pas­sen­des Bild ist für den Kna­ben, so geh zu Bett, Da­vid.«

      Ich konn­te kaum die Türe fin­den, so voll Trä­nen stan­den mei­ne Au­gen. Ich fühl­te mei­ner Mut­ter Schmerz so tief mit; ich schlich hin­aus und tapp­te im Dun­keln die Trep­pe hin­auf in mein Zim­mer, ohne nur das Herz zu ha­ben, Peg­got­ty gute Nacht zu sa­gen oder mir eine Ker­ze von ihr ge­ben zu las­sen. Als sie viel­leicht eine Stun­de spä­ter nach mir sah, wach­te ich auf, und sie sag­te mir, mei­ne Mut­ter sei sehr be­trübt zu Bett ge­gan­gen, und Mr. und Miss Murd­sto­ne sä­ßen noch un­ten al­lein.

      Am nächs­ten Mor­gen ging ich et­was frü­her als ge­wöhn­lich hin­un­ter und hör­te, wie drin­nen mei­ne Mut­ter Miss Murd­sto­ne de­mü­tigst um Ver­zei­hung bat. Die Dame ver­zieh ihr, und es fand eine voll­stän­di­ge Aussöh­nung statt. Nie wie­der spä­ter hör­te ich mei­ne Mut­ter über ir­gen­det­was eine Mei­nung äu­ßern, ehe sie sich nicht zu­vor an Miss Murd­sto­ne ge­wen­det oder in sich­re Er­fah­rung ge­bracht hat­te, was ihre An­sicht sei; und nie wie­der sah ich Miss Murd­sto­ne in üb­ler Lau­ne nach dem Beu­tel grei­fen, als ob sie die Schlüs­sel her­aus­neh­men und sie mei­ner Mut­ter zu­rück­ge­ben woll­te, ohne dass die­se nicht in die schreck­lichs­te Angst ge­ra­ten wäre.

      Das dunkle Blut, das in den Adern der Murd­sto­nes floss, gab auch ih­rer Re­li­gi­on et­was Fins­te­res und Stren­ges. Ich habe seit­dem oft dar­über nach­ge­dacht, ob die­se Ei­gen­schaft nicht eine not­wen­di­ge Fol­ge war von Mr. Murd­sto­nes Fes­tig­keit, die ihm nie­mals er­lau­ben woll­te, ir­gend­je­mand von der strengs­ten Stra­fe frei­zu­spre­chen. Sei dem, wie es woll­te, ich kann mich noch recht gut der fins­tern und erns­ten Ge­sich­ter er­in­nern, mit de­nen wir zum Got­tes­dienst zu ge­hen pfleg­ten, und des ver­än­der­ten Ein­drucks, den die Kir­che auf mich mach­te.

      Wie­der kommt der ge­fürch­te­te Sonn­tag, und ich mar­schie­re zu­erst in den al­ten Bet­stuhl, wie ein be­wach­ter Sträf­ling zu ei­nem Ge­fan­ge­nen­got­tes­dienst. Dicht hin­ter mir folgt Miss Murd­sto­ne in ei­nem schwar­zen Samt­kleid, das aus ei­nem Lei­chen­tuch ge­macht zu sein scheint. Dann kommt mei­ne Mut­ter, dann ihr Gat­te. Peg­got­ty geht nicht mehr mit wie frü­her. Wie­der höre ich Miss Murd­sto­ne die Re­spon­so­ri­en mur­meln und auf alle dro­hen­den Wor­te mit grau­sa­mem Be­ha­gen be­son­dern Nach­druck le­gen. Wie­der sehe ich ihre dunklen Au­gen in der Kir­che um­her­schwei­fen, wenn sie sagt »elen­de Sün­der«, als wenn sie die gan­ze Ge­mein­de in die­sem Na­men ein­schlie­ßen wol­le. Wie­der wer­fe ich ver­stoh­le­ne Bli­cke auf mei­ne Mut­ter, die ihre Lip­pen schüch­tern flüs­ternd be­wegt, wäh­rend das Sum­men der bei­den in ih­ren Ohren brummt wie fer­nes Donner­grol­len. Dann über­kommt mich eine plötz­li­che Furcht, ob nicht viel­leicht Mr. und Miss Murd­sto­ne recht ha­ben und un­ser gu­ter Pfar­rer un­recht, und dass alle En­gel im Him­mel Ra­cheen­gel sein könn­ten. Wenn ich einen Fin­ger rüh­re oder ein Mus­kel mei­nes Ge­sichts schlaff wird, stößt mich Miss Murd­sto­ne mit ih­rem Ge­bet­buch, dass mich die Sei­te schmerzt.

      Und auf dem Heim­weg be­mer­ke ich, wie die Nach­barn mich und mei­ne Mut­ter an­se­hen und uns nach­bli­cken und mit­ein­an­der flüs­tern. Und wie die drei Arm in Arm ge­hen und ich al­lein hin­ter ih­nen drein, fol­ge ich die­sen Bli­cken und fra­ge mich, ob mei­ner Mut­ter Gang wirk­lich nicht mehr so leicht ist und ob das hei­te­re Glück ih­rer Schön­heit nicht schon ganz trüb ge­wor­den. Ich fra­ge mich, ob die Nach­barn wohl auch dar­an den­ken, wie wir bei­de frü­her nach Hau­se gin­gen, und ich zer­bre­che mir den Kopf dar­über den gan­zen lang­sam sich hin­schlep­pen­den trü­ben Tag.

      Von Zeit zu Zeit war da­von die Rede ge­we­sen, mich in eine Kost­schu­le zu schi­cken. Mr. und Miss Murd­sto­ne hat­ten es an­ge­regt, und mei­ne Mut­ter hat­te na­tür­lich bei­ge­stimmt. Nichts­de­sto­we­ni­ger kam es vor­läu­fig noch nicht dazu. Vor­läu­fig hat­te ich zu Hau­se Lehr­stun­den.

      Wer­de ich die­sen Un­ter­richt wohl je ver­ges­sen? Dem Na­men nach stand ihm mei­ne Mut­ter vor, in Wirk­lich­keit aber Mr. Murd­sto­ne und sei­ne Schwes­ter, die im­mer zu­ge­gen wa­ren und dar­in eine güns­ti­ge Ge­le­gen­heit sa­hen, mei­ner Mut­ter Lek­tio­nen in der Fes­tig­keit zu er­tei­len, die un­ser bei­der Le­ben ver­gif­te­te.

      Ich glau­be, nur das war der Grund, wes­halb ich vor­läu­fig zu Hau­se be­hal­ten wur­de. Ich hat­te gut und wil­lig ge­lernt, als mei­ne Mut­ter und ich noch al­lein mit­ein­an­der leb­ten. Ich kann mich noch un­deut­lich er­in­nern, wie ich auf ih­rem Schoß das Al­pha­bet lern­te. Noch heu­te, wenn ich auf die fet­ten, schwar­zen Buch­sta­ben in ei­ner Fi­bel sehe, tritt mir die ver­wir­ren­de Neu­heit ih­rer Ge­stal­ten und die be­hä­bi­ge Ge­müt­lich­keit des »O, Q und S« ganz so vor die Au­gen wie da­mals. Aber sie er­in­nern mich an kein Ge­fühl des Wi­der­wil­lens oder des Ekels. Im Ge­gen­teil, es ist mir, als ob ich auf ei­nem Blu­men­pfad bis zum Kro­ko­dil­buch ge­wan­delt sei, und als ob mich die sanf­te Wei­se und Stim­me mei­ner Mut­ter auf dem gan­zen Wege ge­stärkt hät­ten.

      Aber der fei­er­li­che Un­ter­richt, der spä­ter kam, steht vor mir, wie der Tod mei­nes See­len­frie­dens, wie eine täg­li­che, jäm­mer­li­che Pla­ge und kum­mer­vol­les Elend.

      Die Lek­tio­nen wa­ren sehr lang, sehr zahl­reich, sehr schwer – ei­ni­ge voll­kom­men un­ver­ständ­lich für mich – und ver­wirr­ten mich meis­tens eben­so sehr, wie ver­mut­lich mei­ne Mut­ter.

      Ich will ein­mal in der Erin­ne­rung so einen Mor­gen durch­ge­hen:

      Ich tre­te nach dem Früh­stück mit mei­nen Bü­chern, ei­nem Schreib­heft und ei­ner Schie­fer­ta­fel ein. Mei­ne Mut­ter sitzt an ih­rem Schreib­tisch und ist be­reit für mich, aber nicht halb so be­reit wie Mr. Murd­sto­ne in sei­nem Lehn­stuhl am Fens­ter (wenn er auch vor­gibt, ein Buch zu le­sen) oder wie Miss Murd­sto­ne, die in der Nähe mei­ner Mut­ter sitzt und Stahl­per­len auf­rei­ht.

      Der blo­ße An­blick der bei­den wirkt auf mich, dass ich mer­ke, wie die Wor­te, die ich mir mit so un­end­li­cher Mühe ein­ge­prägt habe, mir alle ent­fal­len und ge­hen, ich weiß