Charles Dickens

David Copperfield


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Ma­da­me, sie wird bald wie­der ganz wohl sein, hof­fe ich«, ant­wor­te­te Mr. Chil­lip, »so wohl, wie wir es von ei­ner jun­gen Mut­ter un­ter so ge­trüb­ten häus­li­chen Ver­hält­nis­sen nur er­war­ten kön­nen. Wenn Sie sie so­gleich se­hen wol­len, steht dem nichts im Wege, Ma­da­me. Vi­el­leicht tut es ihr so­gar gut.«

      »Und sie? Wie geht es ihr?«

      Mr. Chil­lip neig­te sei­nen Kopf noch ein biss­chen mehr auf die Sei­te und sah mei­ne Tan­te an wie ein lie­bens­wür­di­ger Vo­gel.

      »Das Baby?« sag­te mei­ne Tan­te, »wie geht es ihr?«

      »Ma­da­me«, er­wi­der­te Mr. Chil­lip. »Ich nahm an, Sie wüss­ten es schon. Es ist ein Kna­be.«

      Mei­ne Tan­te sprach kein Wort, nahm ih­ren Hut an den Bän­dern wie eine Schleu­der, führ­te einen Streich da­mit ge­gen Mr. Chil­lips Kopf, stülp­te ihn aufs Haupt, schritt hin­aus und kam nie­mals wie­der.

      Sie ver­schwand, wie eine un­zu­frie­de­ne Fee oder wie eins je­ner über­na­tür­li­chen We­sen, die ich nach dem Volks­glau­ben be­rech­tigt war, se­hen zu kön­nen; ging hin und ward nicht mehr ge­se­hen.

      Ich lag in mei­ner Wie­ge und mei­ne Mut­ter im Bett. Betsey Trot­wood-Cop­per­field aber blieb für im­mer im Lan­de der Träu­me und Schat­ten, in je­ner grau­en­vol­len Re­gi­on, die ich jüngst durch­wan­dert. Und das Licht un­se­res Zim­mers schi­en hin­aus auf das ir­di­sche Ziel al­ler Wan­de­rer aus die­ser Re­gi­on: auf den Hü­gel über der Asche und dem Stau­be des­sen, der einst hie­nie­den ge­weilt, und ohne den ich nie ge­wor­den wäre.

      Die ers­ten Ge­gen­stän­de, die be­stimm­te Um­ris­se vor mir an­neh­men, wenn ich weit zu­rück in die Lee­re mei­ner Kind­heit bli­cke, sind mei­ne Mut­ter mit ih­rem schö­nen Haar und den ju­gend­li­chen For­men und Peg­got­ty mit über­haupt gar kei­ner Form und mit so dun­keln Au­gen, dass sie ihre Um­ge­bung im Ge­sicht dun­kel zu ma­chen schei­nen, und mit Ar­men und Ba­cken so rot, dass ich mich stets wun­der­te, warum die Vö­gel nicht lie­ber an ih­nen statt an den Äp­feln her­um­pick­ten.

      Ich glau­be, mich noch dar­an er­in­nern zu kön­nen, wie die bei­den Frau­en in klei­ner Ent­fer­nung von­ein­an­der auf dem Bo­den knie­ten, und ich un­si­cher von ei­ner zur an­de­ren wank­te. Ich habe auch noch eine dunkle Erin­ne­rung an Peg­got­tys Zei­ge­fin­ger, der von der Na­del so rau war wie ein Ta­schen­mus­kat­nuss­reib­ei­sen.

      Das mag Ein­bil­dung sein, aber ich glau­be, dass das Ge­dächt­nis der meis­ten Men­schen wei­ter in die Kin­der­zeit zu­rück­reicht, als man ge­wöhn­lich an­nimmt; eben­so glau­be ich, dass die Beo­b­ach­tungs­ga­be bei vie­len klei­nen Kin­dern an Schär­fe und Ge­nau­ig­keit ganz wun­der­bar ist. Ich glau­be so­gar, dass man von den meis­ten Er­wach­se­nen, die in die­ser Hin­sicht be­mer­kens­wert sind, viel eher sa­gen könn­te, sie hät­ten die­se Fä­hig­keit nicht ver­lo­ren, als, sie hät­ten sie erst spä­ter er­wor­ben; umso mehr, als sol­che Men­schen über­dies eine ge­wis­se Fri­sche und Sanft­mut und eine Fä­hig­keit, sich über ir­gen­det­was zu freu­en, be­sit­zen, lau­ter Ei­gen­schaf­ten, die sie eben­falls aus der Kind­heit mit her­über­ge­nom­men ha­ben.

      Wenn ich also, wie ge­sagt, in die Lee­re mei­ner frü­he­s­ten Ju­gend zu­rück­bli­cke, sind die ers­ten Ge­gen­stän­de, de­ren ich mich er­in­nern kann, und die aus dem Wirr­warr der Din­ge her­vor­ste­chen, mei­ne Mut­ter und Peg­got­ty. Was weiß ich sonst noch? Wol­len mal se­hen.

      Es schei­det sich aus dem Ne­bel un­ser Haus in sei­ner mir in frü­he­s­ter Erin­ne­rung ver­trau­ten Ge­stalt. Im Erd­ge­schoss geht Peg­got­tys Kü­che auf den Hin­ter­hof hin­aus; da sind: in der Mit­te ein Tau­ben­schlag auf ei­ner Stan­ge, aber ohne Tau­ben; eine große Hun­de­hüt­te in ei­ner Ecke, aber kein Hund dar­in, und eine An­zahl Hüh­ner, die mir er­schreck­lich groß vor­kom­men, wie sie mit dro­hen­dem und wil­dem We­sen her­um­stol­zie­ren. Ein Hahn fliegt auf einen Pfos­ten, um zu krä­hen, und scheint sein Auge ganz be­son­ders auf mich zu rich­ten, wie ich ihn durch das Kü­chen­fens­ter be­trach­te; und ich zit­te­re vor Furcht, weil er so bös ist. Von den Gän­sen au­ßer­halb der Sei­ten­tür, die mir mit lan­g­aus­ge­streck­ten Häl­sen nach­lau­fen, wenn ich vor­bei­ge­he, träu­me ich die gan­ze Nacht, wie ein Mann, den wil­de Tie­re um­ge­ben, von Lö­wen träu­men wür­de.

      Dann ist ein lan­ger Gang da – für mich eine end­lo­se Per­spek­ti­ve –, der von Peg­got­tys Kü­che zum Haupt­tor führt. Eine dunkle Vor­rats­kam­mer mün­det auf die­sen Gang; – so recht ein Ort, um des Nachts dar­an scheu vor­bei­zu­lau­fen –, denn ich weiß nicht, was zwi­schen die­sen Ton­nen und Krü­gen und al­ten Tee­kis­ten ste­cken mag –, wenn sich nicht ge­ra­de je­mand mit ei­nem bren­nen­den Licht in der Kam­mer be­fin­det. Eine dump­fi­ge Luft, mit der sich der Ge­ruch von Sei­fe, Mi­xed-Pick­les, Pfef­fer, Ker­zen und Kaf­fee ver­mischt, strömt her­aus. Dann sind die bei­den Wohn­zim­mer da: Das eine, in dem abends mei­ne Mut­ter, ich und Peg­got­ty sit­zen, – denn Peg­got­ty leis­tet uns Ge­sell­schaft, wenn wir al­lein sind, und sie ihre Ar­beit ge­macht hat, – und das Empfangs­zim­mer, wo wir Sonn­tags sit­zen, prunk­voll, aber nicht so trau­lich. Für mich hat die­ses Zim­mer et­was Schwer­mü­ti­ges, denn Peg­got­ty hat mir er­zählt, – ich weiß zwar nicht mehr, wann, aber es muss lan­ge her sein – als mein Va­ter be­gra­ben wur­de, wä­ren die Trau­er­gäs­te drin mit schwar­zen Män­teln um­her­ge­gan­gen. Dort liest je­den Sonn­tag abends mei­ne Mut­ter Peg­got­ty und mir vor, wie La­za­rus von den To­ten auf­er­weckt wur­de. Und ich ängs­ti­ge mich so sehr dar­über, dass sie mich dann aus dem Bet­te her­aus­neh­men und mir aus dem Schlaf­zim­mer­fens­ter den stil­len Kirch­hof zei­gen müs­sen, wo die To­ten im fei­er­li­chen Mond­licht in ih­ren Grä­bern ru­hen.

      Auf der gan­zen Welt, so viel ich weiß, ist nir­gends das Gras nur halb so grün wie auf die­sem Kirch­hof, nir­gends sind die Bäu­me halb so schat­tig, und nichts ist so still wie die Grab­stei­ne. Die Scha­fe wei­den dort, wenn ich früh mor­gens in dem klei­nen Bett in dem Al­ko­ven hin­ter mei­ner Mut­ter Schlaf­zim­mer knie und hin­aus­schaue, und ich sehe das röt­li­che Licht auf die Son­nen­uhr schei­nen und den­ke bei mir: Freut sich die Son­nen­uhr, dass sie die Zeit an­ge­ben kann?

      Dann ist un­ser Bet­stuhl in der Kir­che da. Was für ein hoch­rücki­ger Stuhl! Da­ne­ben ist ein Fens­ter, von dem aus man un­ser Haus se­hen kann. Und oft­mals wäh­rend des Mor­gen­got­tes­diens­tes blickt Peg­got­ty hin­aus, um sich zu ver­ge­wis­sern, ob nicht ein­ge­bro­chen oder et­was in Brand ge­steckt wird. Wenn sie selbst auch ihre Au­gen um­her­wan­dern lässt, so wird sie doch böse, wenn ich das­sel­be tue, und winkt mir zu, wenn ich auf dem Sitz ste­he, dass ich den Geist­li­chen an­bli­cken sol­le. Aber ich kann ihn doch nicht im­mer­fort an­se­hen – ich ken­ne ihn doch so­wie­so auch ohne das wei­ße Ding, das er um­hat, und fürch­te im­mer, er kön­ne plötz­lich wis­sen wol­len, warum ich ihn so an­stau­ne, und viel­leicht gar den Got­tes­dienst un­ter­bre­chen, um mich dar­über zu be­fra­gen, – und was soll­te ich dann tun?

      Es ist et­was Schreck­li­ches, zu gäh­nen. Aber ir­gen­det­was muss ich doch ma­chen. Ich bli­cke mei­ne Mut­ter an, aber sie tut, als ob sie mich nicht sähe. Ich schaue einen Jun­gen im Sei­ten­schiff an; er schnei­det mir Ge­sich­ter. Ich sehe auf die Son­nen­strah­len, die durch die off­ne Tür her­ein­fal­len, und da er­bli­cke ich