Frank Goyke

Der Geselle des Knochenhauers


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verhungern.

      »Und was machte dieses Fresko zum Gesprächsgegenstand der Kurie?«, wollte Friedag denn auch wissen. Die Magd legte auf.

      »Nun, sehr vieles. Man warf dem Maler Unzüchtigkeit vor, ja sogar Ketzerei. Christus ist dargestellt wie ein jugendlicher heidnischer Titan – und ohne Bart! Die Engel sehen aus wie Ringkämpfer, Johannes der Täufer gar ist vollkommen nackt. Bei der heiligen Katharina sieht man den baren Busen, und …«, Eusebius schluckte, »und bei vielen männlichen Figuren das Geschlechtsteil.«

      »Unerhört!«, rief der Offizial. »Das ist Blasphemie!« Weihbischof Fannemann zuckte nur die Achseln. Er freute sich über den Besuch seines Mitbruders Eusebius und war mild gestimmt. Davon abgesehen, wusste er über das Geschlechtsleben seines Offizials genau Bescheid. Es war mehr als blasphemisch, aber Fannemann schwieg dazu: Als Weihbischof setzte er seine Bediensteten wie Schachfiguren, und Schachfiguren hatten keine Seele. Er liebte dieses Spiel, und das Schachzabelbuch des Konrad von Ammenhausen kannte er beinahe auswendig. Die Dombibliothek besaß eine Abschrift, die aber in den Listen des Küsters als ständig ausgeliehen erschien: Fannemann las neben der Heiligen Schrift Konrads Werk als Einschlafhilfe. Von Ammenhausen war ein Benediktiner gewesen und hatte dieses wunderbare Buch im Sankt-Georgen-Kloster in Stein am Rhein verfasst. Eigentlich handelte es weniger vom Schach als von der Moral. Moral konnte die Menschheit dringend gebrauchen. Sie war notwendiger als Nahrung, denn ein großer Teil der Geschöpfe Gottes hatte keine mehr.

      »Nun ja«, Eusebius gelang es, rasch ein Stück Fisch in den Mund zu schieben, das er hastig verschluckte, denn die Magd war mit dem nächsten Gang erschienen. Wenn man ihm noch weiter Löcher in den Bauch fragte, würde er vermutlich an der reich gedeckten Tafel seines Ordensbruders verhungern.

      Fannemann hatte es immerhin zum Weihbischof gebracht. Trotz dessen aufmunterndem Lächeln fühlte sich Eusebius ziemlich klein neben ihm. Und Eusebius liebte das Werk dieses verrückten Michelangelo ebenso wie sein Papst. Es war vermutlich nicht ganz der Schrift treu, aber es war erhebend. »Der Heilige Vater jedenfalls sank vor dieser gewaltigen Arbeit sofort auf die Knie.« Eusebius warf einen verstohlenen Blick auf den kross gebratenen Kapaun.

      Doch bevor sich die Herren dem verschnittenen Hahn widmen konnten, erschien ein bischöflicher Beamter.

      »Da sind zwei Weltgeistliche, Eminenz, die Euch dringend zu sprechen wünschen«, meldete er.

      »Später«, sagte der Weihbischof mit säuerlicher Miene. »Wir essen jetzt.«

      »Das sehe ich, Herr«, sagte der Beamte. »Aber die beiden Priester wirken ziemlich abgehetzt. Es scheint sich um eine wichtige Angelegenheit zu handeln.«

      Eusebius griff schnell nach einem Flügel und brach ihn ab. Fannemann nickte ihm aufmunternd zu, während er zu dem Beamten sagte: »Dann bitte sie in Gottes Namen herein.«

      Nachdem sie mit Heinrich von Alfeld und den Bademägden gesprochen hatten, konnten sich die Ratsherren ein ungefähres Bild von der Tat machen. Irgendjemand hatte sich in die Badestube geschlichen, den Vorhang hinter seinem Opfer beiseite geschoben, ihm mit einem schnellen, kräftigen Schnitt die Kehle durchtrennt und war dann unerkannt hinausgelaufen in Regen und Sturm. Der Mörder war ein ziemlich hohes Risiko eingegangen, denn immerhin hatte der Ratmann von Alfeld direkt neben seinem Opfer gesessen, oder der Bader und sein Knecht hätten ihn überraschen können. Sie befanden sich zwar in einem Nebenraum, wo sie den Knochenhauer Waldemar Klingenbiel zur Ader ließen, aber es hätte immerhin sein können, dass einer von ihnen die eigentliche Badestube betrat, um sich nach dem Befinden der Gäste zu erkundigen. Waldemar Klingenbiel hatte übrigens von dem Ereignis nichts mitbekommen. Erschöpft vom Aderlass, war er eingeschlafen, und er schlief immer noch.

      »Und Ihr habt wirklich nichts gesehen?«, fragte Bürgermeister Sprenger den Ratskollegen Meister Alfeld.

      »Ich sagte doch schon, dass ich die Augen geschlossen hielt«, erwiderte Heinrich. »Ich wollte das Bad genießen …«

      Mehr wohl die geschickten Hände und Lippen der Magd, dachte Tile Brandis, sagte jedoch nichts; er behielt seine Meinung lieber für sich, solange ihm nicht ausdrücklich ein Kommentar abverlangt wurde.

      »Aber du?« Sprenger deutete auf die jüngere der Bademägde. Sie trug eine sehr offenherzige Bluse, und Brandis war sicher, dass sie Männern für Geld in jeglicher Hinsicht dienstbar war. »Oder du?« Sprenger zeigte auf die andere Magd, die weitaus älter und bereits grauhaarig war und züchtig tat. Beide schüttelten den Kopf. Sie sahen noch immer verheult aus, weinten aber nicht mehr.

      »Warum ist Peter Groper überhaupt nach Einbeck gekommen?«, fragte Tile Brandis von Alfeld.

      »Wir wollten über ein Geschäft sprechen«, antwortete der Metzgermeister.

      »Welche Art von Geschäft?«

      »Peter lieferte mir Bier«, erklärte von Alfeld. »Zehn Fuder im Frühjahr und zehn Fuder im Herbst, also vierzig Fässer pro Jahr. Zwanzig Fässer kaufte ich im Auftrag des Rates für den Ausschank im Einbeckschen Keller. Die andere Hälfte habe ich nach Braunschweig weitergehandelt.«

      »Und er brachte Euch das Bier nach Hildesheim?«

      »Natürlich nicht. Ihr wisst doch genau, Tile, dass die Einbecker Brauer normalerweise Zwischenhändler benutzen. Aber was sollen diese Fragen?«

      Tile Brandis schaute den Ratsherrn und Knochenhauer ernst an. »Mein lieber Heinrich, warum sind wir hier?«

      »Ja, natürlich. Verzeiht!« Heinrich von Alfeld fuhr sich über die Augen. »Ich habe einen Freund verloren … Doch fragt weiter, ich will Euch Rede und Antwort stehen.«

      »Danke.« Tile Brandis blickte zu den anderen Ratsherren. Consul Raven bemühte sich um eine undurchdringliche Miene, während er sich über seinen Bauch strich. Aus den Gesichtern von Hinrich Einem und Eggert Unverzagt war deutlicher Widerwille abzulesen, und das Interesse von Bürgermeister Sprenger galt vor allem den Mägden. Doch alle vier, das spürte Brandis, wären froh, wenn er die Untersuchung übernahm. Das war nicht seine Aufgabe, er war im Rat nicht für die Gerichtsangelegenheiten zuständig. Über den Mörder zu Gericht zu sitzen, wenn man seiner denn habhaft wurde, war allerdings Sache des ganzen Rates. Tile war vor allem neugierig. Und dass hier etwas faul war, lag auf der Hand.

      »Ich nehme also an, Heinrich«, er wandte sich wieder dem Knochenhauer zu, »dass Ihr nach Einbeck fuhrt, um das Bier zu holen?«

      Heinrich von Alfeld nickte. »Meine Knechte fuhren«, sagte er.

      »Wann hätten sie wieder fahren sollen?«

      »Sobald das Wetter besser ist.«

      »Ja, seht Ihr, und das verwirrt mich. Es regnet und stürmt seit Tagen …« Ratmann Brandis ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen. »Und ausgerechnet bei diesem Unwetter macht sich Peter Groper auf den Weg nach Hildesheim, um mit Euch ein Geschäft zu besprechen?«

      Heinrich antwortete mit einem Schulterzucken.

      »Worum ging es denn?«

      »Das weiß ich nicht!« Alfeld setzte einen gequälten Ausdruck auf. »Er ist heute angekommen. Deshalb habe ich einen Abend in der Badestube vorgeschlagen: damit er sich nach der Reise so richtig durchwärmen kann. Über die Geschäfte wollten wir erst beim Essen sprechen.«

      »Wo ist sein Reisegepäck?«

      »In meinem Haus. Peter war mein Gast, also hat er auch bei mir gewohnt.«

      »Ich finde, das genügt jetzt«, mischte sich Proconsul Sprenger ein.

      Brandis vermutete, dass es den Bürgermeister zur Abendsuppe und zum Rheinwein zog, aber er überging den Einwand. »Ich möchte das Gepäck sehen.«

      »Ich bringe es aufs Rathaus«, sagte Alfeld.

      »Gut. Büttel!« Tile Brandis drehte sich abrupt um.

      »Ja, Herr?«

      »Sorge dafür, dass auch der Leichnam zum Rathaus gebracht wird«, befahl Brandis. »Dann rufe den Stadtphysikus, damit er die Wunden vermessen kann.«