fremdartigen Ungeheuer hat sich schauerlich angehört.
Anscheinend konnte keiner von ihnen Englisch, aber die Situation mußte geklärt werden – die Kreatur mit dem großen Kopf wurde nämlich immer rasender vor Zorn; er schrie wie ein wildes Tier, hatte seine verformten Hände auf mich gelegt und war drauf und dran, mich aus dem Bett zu zerren, ohne darauf zu achten, daß meine Wunde wieder blutete. Das kleine Monster war stark wie ein Bulle, und ich weiß nicht, was es mit mir angestellt hätte, wenn nicht ein älterer Mann, der offensichtlich Autorität besaß, durch den Lärm in den Saal gelockt Worden wäre. Er spricht ein paar strenge Worte auf holländisch, und mein Peiniger zieht sich zurück. Dann wendet er sich mir zu und starrt mich dabei höchst verblüfft an.
›Wie in aller Welt sind Sie hierhergekommen?‹ fragt er verwundert. ›Moment mal. Jetzt seh ich's erst, Sie sind ja völlig erschöpft, und Ihre verwundete Schulter muß versorgt werden. Ich bin Arzt, ich werde Sie gleich mal verbinden. Aber, Mann Gottes, Sie sind hier in weit größerer Gefahr als auf dem Schlachtfeld! Dies ist ein Leprahospital, und Sie haben im Bett eines Aussätzigen geschlafen.‹
Muß ich dir noch mehr erzählen, Jimmie? Anscheinend waren diese armen Geschöpfe angesichts der herannahenden Schlacht tags zuvor evakuiert worden. Danach, als die Briten vorgerückt sind, hat ihr ärztlicher Aufseher sie wieder zurückgebracht; er hat mir versichert, daß er sich zwar für immun gegen die Krankheit hält, aber trotzdem nie gewagt hätte, was ich getan habe. Er hat mich in ein Einzelzimmer gelegt und freundlich behandelt; nach ungefähr einer Woche wurde ich ins allgemeine Hospital in Pretoria überführt.
Jetzt kennst du also meine Tragödie. Ich habe verzweifelt gehofft; erst als ich schon nach Hause zurückgekehrt war, haben mir die schrecklichen Zeichen, die du auf meinem Gesicht siehst, verraten, daß ich nicht davongekommen bin. Was sollte ich tun? Ich befand mich in diesem einsamen Haus. Wir hatten zwei Angestellte, auf die wir uns völlig verlassen konnten. Ein Häuschen war vorhanden, in dem ich wohnen konnte. Mr. Kent, ein Wundarzt, war bereit, unter dem Siegel der Verschwiegenheit bei mir zu bleiben. So gesehen, war der Plan ziemlich einfach. Die Alternative war furchtbar – lebenslange Isolierung, unter fremden Menschen; und ohne Hoffnung, jemals wieder freizukommen. Allerdings war absolute Geheimhaltung nötig, sonst hätte es selbst in dieser ruhigen Gegend einen Aufschrei der Empörung gegeben, und ich wäre in mein grausiges Schicksal getrieben worden. Sogar du, Jimmie – sogar du mußtest im dunkeln gelassen werden. Warum mein Vater jetzt nachgegeben hat, kann ich mir nicht erklären.«
Colonel Emsworth deutete auf mich.
»Das ist der Gentleman, der mich dazu gezwungen hat.« Er entfaltete den Zettel, auf den ich das Wort »Lepra« geschrieben hatte. »Ich dachte mir, wenn er schon so viel weiß, ist es sicherer, wenn er gleich alles weiß.«
»Ganz recht«, sagte ich. »Wer weiß, ob es nicht sogar sein Gutes hat? Ich nehme an, daß nur Mr. Kent den Patienten gesehen hat. Darf ich fragen, Sir, ob derartige Krankheiten, die, soviel ich weiß, tropischer oder subtropischer Natur sind, zu Ihrem Fachgebiet gehören?«
»Ich besitze die herkömmlichen Kenntnisse eines ausgebildeten Mediziners«, bemerkte er etwas steif.
»Ich hege nicht den geringsten Zweifel an Ihrer Kompetenz, Sir, aber Sie werden mir gewiß zustimmen, daß es in einem solchen Fall von Nutzen wäre, einen zweiten Gutachter heranzuziehen. Das haben Sie bisher unterlassen, weil Sie vermutlich befürchteten, daß man dann den Patienten zwangsweise isolieren könnte.«
»So ist es«, sagte Colonel Emsworth.
»Ich habe die Situation vorausgesehen«, erklärte ich, »und deshalb einen Freund mitgebracht, auf dessen Diskretion man sich absolut verlassen kann. Ich konnte ihm einmal von Berufs wegen helfen, und er ist bereit, Sie eher als Freund denn als Spezialist zu beraten. Sein Name ist Sir James Saunders.«
Die Überraschung und Freude, die die Aussicht auf eine Zusammenkunft mit Lord Roberts29 bei einem frischgebackenen Offizier ausgelöst hätte, wäre nicht größer gewesen als die, die sich nun auf Mr. Kents Gesicht spiegelte.
»Das ist eine große Ehre«, murmelte er.
»Dann werde ich Sir James bitten, hierher zu kommen. Er wartet gegenwärtig noch im Wagen vor dem Tor. In der Zwischenzeit, Colonel Emsworth, sollten wir uns vielleicht in Ihr Arbeitszimmer begeben, wo ich Ihnen dann die nötigen Erklärungen liefern könnte.«
Und hier vermisse ich nun wirklich meinen Watson. Er wäre imstande, meine schlichte Kunst, die doch nichts als der systematisch angewandte gesunde Menschenverstand ist, durch geschickte Fragen und verblüffte Ausrufe in den Stand eines schieren Wunders zu erheben. Sobald ich meine Geschichte selbst erzähle, verfüge ich freilich nicht über solche Hilfsmittel. Dennoch will ich meinen Gedankengang just so wiedergeben, wie ich ihn meinem kleinen Auditorium, zu dem auch Godfreys Mutter gehörte, in Colonel Emsworths Arbeitszimmer vorgetragen habe.
»Dieser Gedankengang«, sagte ich, »geht von folgender Voraussetzung aus: Wenn man alles, was nicht im Bereich des Möglichen liegt, eliminiert hat, dann muß der verbleibende Rest – wie unwahrscheinlich er immer sei – unbedingt die Wahrheit sein. Es ist durchaus möglich, daß dieser Rest mehrere Deutungen zuläßt; in dem Fall stellt man eine nach der anderen auf die Probe, bis ein beweiskräftiges Ergebnis vorliegt. Dieses Prinzip wollen wir nun auf den vorliegenden Fall anwenden. So, wie er sich mir zunächst präsentierte, gab es für die Zurückgezogenheit oder Einsperrung dieses Gentleman in einem Gartenhäuschen auf dem väterlichen Grundstück drei Deutungsmöglichkeiten. Erstens, daß er sich wegen eines Verbrechens versteckt hielt; zweitens, daß er geistesgestört war und man seine Unterbringung in einer Anstalt vermeiden wollte; drittens, daß er eine Krankheit hatte, die seine Isolierung erforderte. Eine weitere passende Erklärung konnte ich nicht finden. Demnach mußten diese drei untersucht und gegeneinander abgewogen werden.
Die Lösung mit dem Verbrechen konnte der Überprüfung nicht standhalten. Aus dieser Gegend lagen keine Meldungen über ein unaufgeklärtes Verbrechen vor. Dessen war ich mir sicher. Wenn es sich um ein noch nicht entdecktes Verbrechen handelte, läge der Familie wohl eher daran, sich den Delinquenten vom Hals zu schaffen und ihn ins Ausland zu schicken, als ihn zu Hause zu verstecken. In einer solchen Verhaltensweise konnte ich keinen Sinn entdecken.
Plausibler war die geistige Umnachtung. Die Anwesenheit der zweiten Person in dem Häuschen legte den Gedanken an einen Wärter nahe. Die Tatsache, daß diese Person beim Hinausgehen die Tür abgeschlossen hat, bestätigte diese Annahme und deutete auf Zwang. Andererseits konnte dieser Zwang aber nicht absolut streng sein, sonst hätte sich der junge Mann nicht entfernen können, um einen Blick auf seinen Freund zu werfen. Sie werden sich erinnern, Mr. Dodd, daß ich nach Anhaltspunkten suchte; so habe ich Sie zum Beispiel nach der Zeitung gefragt, die Mr. Kent gelesen hat. Wäre es die Lancet oder das British Medical Journal gewesen, so hätte mir das vermutlich weitergeholfen. Nun ist es aber nichts Ungesetzliches, einen Geistesgestörten auf einem Privatgrundstück in Gewahrsam zu halten, solange er unter qualifizierter Aufsicht steht und die Behörden ordnungsgemäß in Kenntnis gesetzt sind. Warum also dieser verzweifelte Wunsch nach völliger Geheimhaltung? Erneut konnte ich die Theorie nicht mit den Fakten in Übereinstimmung bringen.
Es blieb demnach nur noch die dritte Möglichkeit, zu der alles zu passen schien, so seltsam und unwahrscheinlich sie auch war. Lepra ist in Südafrika nichts Ungewöhnliches. Durch irgendeinen merkwürdigen Zufall könnte dieser junge Mann sie sich zugezogen haben. Das brächte jedoch seine Angehörigen in eine ganz abscheuliche Situation, da sie den Wunsch hegten, ihn vor der Isolierung zu bewahren. Strikte Geheimhaltung wäre erforderlich, um zu verhindern, daß Gerüchte entstehen und sich daraufhin die Behörden einschalten. Ein zuverlässiger Arzt zur Versorgung des Kranken ließe sich gegen angemessene Bezahlung leicht finden. Nichts spräche dagegen, letzterem nach Einbruch der Dunkelheit seine Freiheit zu gönnen. Daß die Haut bleich wird, ist eine gewöhnliche Folge dieser Krankheit. Vieles deutete auf diese Möglichkeit – so viel, daß ich beschloß, so vorzugehen, als wäre sie bereits erwiesen. Als ich bei meiner Ankunft bemerkte, daß Ralph, der ja die Mahlzeiten hinaustrug, Handschuhe anhatte, die mit einem Desinfektionsmittel imprägniert waren, fand ich meine letzten Zweifel beseitigt. Ein einziges Wort hat Ihnen angezeigt,