Michael Rautenberg

Zen in der Kunst des Coachings


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Was für ein merkwürdiger Anfang! Diese beiden Schriften von Alan Watts haben mir den ersten, entscheidenden Kick für meine in der Folge immer tiefer gehende Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus gegeben. Ich war fasziniert von der ihm zugrunde liegenden taoistischen Philosophie, die in jeder Hinsicht diametral zu meinem Leben und meinen Werten, zu meinem Bildungsweg und meiner beruflichen Sphäre schien. Und dennoch, so spürte ich damals, hatte sie viel mit meinen Gefühlen, meinem Erleben und meinen Erfahrungen zu tun. Dazu musste ich aber unter die Oberfläche des Alltagslebens schauen. Wenn ich mir die Muße gönnte, dies zu tun, erschloss sich mir nach und nach eine Welt jenseits von Logik, Konsistenz, Kausalitäten, Zielen und Lösungen. Passagen wie »Was ist das, was immer zurückweicht, wenn man es verfolgt? Antwort: du selbst« (Watts 1983, S. 45) verwirrten und faszinierten mich zugleich. Immer noch sehr geprägt von der Rationalität der im Studium erlernten wissenschaftlichen Methode, war das für mich natürlich auch eine Provokation all dessen, was meinem bisherigen Denken lieb und teuer war. Aber es war eine verführerische Provokation, und ich setzte mich ihr mit Freude aus. Also las ich weiter: mehr von Watts, Sheldon B. Kopp, Aitken und vielen anderen. Ich las Lao Tses Tao-Te-King und war fasziniert von seiner Erklärung, dass man ein Gefäß aus Ton formt, aber erst durch das Nichts in seinem Innern dieses Gefäß auch nutzen kann. Das Nichts war also das Eigentliche. Irgendwann fing ich an, mich in der Zen-Meditation zu üben. Hierbei half mir die exzellente Anleitung von Katsui Sekida (1993). Ich widmete mich dieser Praxis mit Disziplin und Regelmäßigkeit, und es dauerte auch nicht sehr lange, bis sich Erfahrungen einstellten, die mir ein Gefühl dafür gaben, was mit Körper, Geist und Seele im meditativen Zustand geschieht. Der gelernte Theologe und Religionsphilosoph Alan Watts war einer derjenigen, die viel dazu beigetragen haben, das Zen für unseren westlichen Verstand zugänglich zu machen. Ein anderer war Karlfried Graf Dürckheim, auf dessen Schriften und Wirken ich später aufmerksam wurde. Ein weiterer war Eugen Herrigel, der den Klassiker Zen in der Kunst des Bogenschießens (Herrigel 1951) verfasst hat. Als Brückenbauer zwischen der östlichen Zen-Kultur und der westlich-christlichen Welt ist auf jeden Fall noch der Zen-Meister und Jesuiten-Pater Hugo Lassalle zu nennen. Nicht zuletzt muss ich einen ganz besonders inspirierenden Lesegenuss erwähnen. Es handelt sich um das genialische Buch Zen and the art of motorcycle maintenance von Robert M. Pirsig (1999). Dieses Buch entfaltet die Zen-Philosophie in der westlichsten aller westlichen Formen, nämlich in einer Roadstory, die ihr Ende am kalifornischen Pazifischen Ozean nimmt.

      Anfang der 2000er-Jahre fügte sich dann die letzte Komponente zu den geistigen Strömungen, die in das vorliegende Buch münden. Dabei handelt es sich um das in vielerlei Weise inspirierende Leseerlebnis von Martin Bubers Das dialogische Prinzip (Buber 1999). Dieses Werk, eigentlich eine Sammlung von Schriften, die zwischen den 20er- und 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind, hat mein Denken und Handeln, aber auch mein Empfinden, als Mensch in dieser Welt zu sein, tiefgreifend beeinflusst. Für mich ist Das dialogische Prinzip eine existenzphilosophische Schrift, die harmonisch und in einem inneren Zusammenhang mit den anderen Denkrichtungen schwingt, die für Zen in der Kunst des Coachings eine wichtige Rolle spielen, also mit dem Zen sowie mit der Systemtheorie und dem Konstruktivismus. Aus diesem gemeinsamen Schwingen ergeben sich für mich erhebliche Konsequenzen für das Coaching und für das Beraten ganz allgemein. Diesem gemeinsamen Schwingen und seinen Auswirkungen werde ich in diesem Buch nachgehen.

      Bevor es richtig losgeht, möchte ich aber noch einige Bemerkungen zum Coaching und zu den tieferen Zusammenhängen zwischen den erwähnten Denkrichtungen, Geistestraditionen und Theorien machen.

       Coaching macht (nicht immer) Spaß

      Zunächst einmal muss ich Folgendes aus tiefster Überzeugung festhalten. Nach meiner Erfahrung ist das Einzelcoaching die wundervollste Arbeitsform für alle, die sich berufen fühlen, Berater zu sein und schnell die Wirksamkeit des eigenen Beitrags spüren wollen. In diesem Setting kann man sich zu 100 % auf die Bedarfe des Klienten konzentrieren, die Auseinandersetzung zwischen Coach und Coachee ist häufig außerordentlich intensiv und spannend, es gibt keine Langeweile, weil immer Themen im Gespräch sind, bei denen der Klient voll dabei ist und, last, but not least: Wer an Menschen interessiert ist und ihnen gerne helfen möchte, wird sich immer wieder über besondere zwischenmenschliche Begegnungen freuen und auch die Dankbarkeit seiner Klienten genießen können. Das bedeutet aber nicht, dass Coaching Sessions stets harmonische Wohlgefühle erzeugen. Ganz im Gegenteil! Der langjährige Coach des Dallas Cowboys Football Teams, Tom Landry, hat mit seinem Coachingverständnis den Nagel definitorisch auf den Kopf getroffen:

      Landry betont das Unbequeme und Fordernde am Coaching. Obwohl er ein Footballcoach war, ist seine Aussage meines Erachtens eins zu eins auf das Executive Coaching übertragbar. Wir müssen immer wieder unsere Klienten aus ihrer Komfortzone locken, damit sie sich im geschützten Raum erfahren, erleben und entwickeln können.

      Man kann Coaching aber auch sehr viel nüchterner definieren als

      »vertrauliche, prozessorientierte Beratung psychisch stabiler Menschen […], die unter Anwendung von Modellen und Interventionen psychotherapeutischer Herkunft in einem bestimmten Lebenskontext durch eine externe Person stattfindet« (Drath 2012, S. 16).

      Diese Definition impliziert eine Grenzziehung zwischen Coaching und Therapie anhand der psychischen Stabilität, die den (Coaching-)Klienten auszeichnet und davor bewahrt, zum (Psychotherapie-)Patienten zu werden. Ob die Differenz zwischen »psychisch