als Nächstes geschieht. Anders als im Schach gibt es in der Beratung keine zwei identischen Situationen. Auch wir als Berater sind zu zwei verschiedenen Zeitpunkten niemals identisch, und dasselbe gilt für unsere Klienten. Auch der Kontext eines Beratungsereignisses kann niemals der Gleiche sein. Diese vollkommene Nichttrivialität ist Wesen und Sinn eines Coachings zugleich. Darin unterscheidet es sich von anderen sozialen Systemen: Die militärischen Organisationen dieser Welt verwenden viel Zeit und Mühe auf Standardisierung und Trivialisierung von Interaktionen. Ein bestimmter Befehl zieht idealerweise eine erwartbare Ausführung nach sich. Ebenso sind die Kommunikationen zwischen Kapitän und Copilot im Cockpit eines Verkehrsflugzeuges weitgehend determiniert. Die Sicherheit einer Flugdurchführung verlangt nicht Kreativität, sondern Prozesstreue. Das Unvorhergesehene ist der Ausnahmefall, den es zu verhüten gilt. Im Coaching hingegen ist das Unvorhergesehene der Regelfall, für den wir uns stets bereithalten müssen und den wir willkommen heißen sollten. Vorhersehbarkeit ist eine Illusion, die wir aufgeben sollten. In der Interaktion zwischen Berater und Klient entsteht das soziale System »Coaching«, wenn beide unter den Bedingungen der doppelten Kontingenz aufeinander Bezug nehmend kommunizieren. Die redlichste Form des Bezugnehmens ist, wenn wir uns als Berater ganz und gar der Einzigartigkeit von Situation und Person in jedem Moment stellen. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet dies, dass wir als Berater jeden Wunsch nach Kontrolle über das Beratungsgeschehen aufgeben sollten. Wir sind uns bewusst: Erstens kommt es anders, zweitens, als man denkt.
Das Besondere ist ja, dass wir bei aller Ungewissheit gleichzeitig in einem engen Abhängigkeitsverhältnis mit unserem Klienten stecken. Wir sind in unserer Beratung abhängig von seinem Tun und Kommunizieren wie er auch von unserem. Nur wenn wir als Coachs ebenso wie unser Coachee in unseren Aktionen und Kommunikationen eindeutig in einer Weise aufeinander Bezug nehmen, die unserer Interaktion die Bedeutung »Beratung« gibt, kann überhaupt Beratung stattfinden. Das soziale System »Beratung« kann also nur entstehen, wenn wir mit unserem Klienten gemeinsam an einem Strang ziehen. Dagegen kann jeder Einzelne es zum Erliegen bringen, indem er nicht mehr eindeutig bezugnehmend kommuniziert.
Die nun folgende kleine Vorschau soll als »Appetithäppchen« für die weitere Lektüre dienen, indem sie aus ersten Hinweisen auf Zusammenhänge zwischen Systemtheorie, Zen, Dialog und Coaching eine wesentliche Konsequenz ableitet.
Vorschau: Beratermut ist Demut
Der Unterschied, der den Unterschied im Sinne der Systemtheorie macht, ist die Grenze zwischen System und Umwelt. Gemäß der luhmannschen Systemtheorie sind Systeme autopoietisch, d. h., sie erzeugen sich selbst, und zwar aus ihren eigenen Elementen. Im Falle des sozialen Systems »Coaching« sind diese Elemente die Kommunikationen zwischen Coach und Coachee. Rund um das Coaching haben wir es dann mit mindestens drei Systemtypen zu tun, nämlich den biologischen Systemen der Beteiligten, mit ihren entsprechenden psychischen Systemen bzw. Bewusstseinssystemen und mit dem bereits angesprochenen sozialen Berater-Klienten-System. In dem Zusammenhang ist natürlich in aller Regel noch das soziale System der Organisation relevant, in dem der Klient Mitglied ist. Aus der Sicht jedes einzelnen Systems gehören alle anderen Systeme zu seiner Umwelt. Nun kommt ein entscheidender Punkt. Systeme, wenn wir sie so verstehen wie Niklas Luhmann, sind nicht nur autopoietisch, sondern auch selbstreferenziell und operational geschlossen. Was das bedeutet, möchte ich an einem Beispiel deutlich machen. Erinnern wir uns an mein Blackout in dem Coaching mit Karin E. Als mir klar geworden war, dass ich ihr eine Zeit lang nicht zugehört hatte, begann ich, Optionen für das weitere Vorgehen abzuwägen. Was sich dabei in meinem (Bewusstseins-)System abspielte, war für meine Klientin nicht erkennbar. Sie hatte keinen Zugriff auf meine Gedanken – Gott sei Dank! Und auch ich konnte allenfalls erahnen, was in ihr vor sich ging. Natürlich war mir daran gelegen, nicht allzu blöd dazustehen. Aber konnte ich das kontrollieren? Nein, ihre Bewertung der Situation wird Karin E. vollkommen eigenmächtig vorgenommen haben. Auf entsprechende Gedanken als Elemente ihres Bewusstseins hatte ich keinen Zugriff und insbesondere keine Möglichkeiten kontrollierbarer Einwirkung. Nebenbei bemerkt, habe ich oft das Gefühl, wenig Kontrolle über die Gedanken meines eigenen Bewusstseins zu haben. Sie scheinen meist eher selbst organisiert in mein Bewusstsein zu treten. Hinzu kommt, dass ein Gedanke immer nur Bezug auf andere Gedanken im eigenen Bewusstsein nehmen kann. Das mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, da wir vielleicht meinen, mit unseren Gedanken direkt auf Außenreize reagieren zu können. Probieren Sie es einmal aus, achten Sie zum Beispiel einmal darauf, wie der Gedankenprozess läuft, wenn jemand etwas zu ihnen sagt. Der äußere Reiz kann allenfalls Anstoß für einen Gedanken sein, der keineswegs ein exaktes Abbild des Reizes ist. Was sich in meinem Bewusstsein verarbeitet, ist letztlich immer meins. Das ist ja auch eine beruhigende Erkenntnis. Äußere Phänomene, wie die Worte eines Beraters, aber auch das Läuten der Kirchenglocken oder das Muhen der Kuh, mögen relevante Reize für diesen meinen psychischen Prozess sein, mehr sind sie aber auch nicht.
Alle an einer kommunikativen Situation beteiligten Systeme arbeiten in diesem Sinne grundsätzlich getrennt voneinander. Diese Trennung kann noch nicht einmal durch beraterische Allmachtsfantasien überwunden werden. Folgen wir dem Systemdenken von Niklas Luhmann, dann gibt es keine determinierenden Einflüsse zwischen Systemen und ihren Umwelten, es sei denn, dass es sich um triviale Systeme wie Toaster, Automobile oder Mondraketen handelt. Im Unterschied zu den hier angesprochenen nichttrivialen, autopoietischen Systemen kann man bei trivialen Systemen immer ganz genau wissen, wie der Zusammenhang zwischen Input und Output ist. Das Betätigen der Zündung startet den Motor. Wenn nicht, ist das Auto kaputt. Solche Gewissheit in Bezug auf die Interaktion autopoietischer Systeme und ihrer Umwelten gibt es nicht – und sei der Berater noch so schlau und erfahren. Wir haben keinen direkten Zugriff auf das Bewusstsein des anderen und können entsprechend keine beabsichtigte Wirkung sicher erzielen. Die prinzipielle Geschlossenheit der Selbstorganisation im Klientenbewusstsein sorgt dafür, dass etwaige Wirkungen im Coachingprozess vom Klienten selber erzielt werden und nicht etwa vom Berater. Die Ausgeschlossenheit einer Eins-zu-eins-Manifestation äußerer Reize im Bewusstsein bedeutet, dass wir nie etwas exakt so wahrnehmen können, wie es in der Außenwelt existiert, sondern unsere Wirklichkeit gewissermaßen eigenmächtig konstruieren. Wir sind also »Wahrgebende« statt »Wahrnehmende«. Wenn wir als Berater diese Sicht auf die Coachingkonstellation akzeptieren, wenn wir unser Gegenüber in seiner Selbstorganisation, Autopoiesis, operativen Geschlossenheit und Selbstreferenzialität anerkennen und annehmen, hat das eine radikale Konsequenz für unser Selbstverständnis und unsere Haltung: Wir sollten äußerst demütig sein. Ich gebe zu, »Demut« ist ein gewöhnungsbedürftiges Wort, das zunächst verwirren mag. Deshalb ist es mir umso wichtiger zu erklären, was ich damit meine. Etymologisch geht »Demut« aus dem Althochdeutschen diomuoti hervor, was so viel wie »dienstwillig« oder »mit der Gesinnung eines Dienstwilligen« bedeutet. Damit kommen wir der Rolle des Beraters doch schon näher. Wenn wir diese Haltung mit Matthieu Ricards Aussage8 kombinieren, dass »Demut« nicht heißt, sich geringer als andere zu fühlen, sondern sich von der Anmaßung der eigenen Wichtigkeit zu befreien, dann landen wir bei genau dem richtigen Demutsverständnis für Berater und Coachs. Wir kennen und akzeptieren die Grenzen unserer beraterischen Möglichkeiten, und erst daraus entwickeln sich die wahre Kraft und das wahre Potenzial unserer Arbeit. Genau hier kommt der Dialog ins Spiel.
Die kommunikative Demutshaltung par excellence ist nämlich der Dialog. Im Dialog wird Kommunikation auf Augenhöhe konsequent gelebt, ja sie ist eine notwendige Voraussetzung für sein Gelingen. Der Dialog lässt alles Instrumentelle los und verlangt dafür von den Dialogpartnern, sich auf einen gemeinsamen Prozess einzulassen, der in keiner Weise planbar ist. Man weiß nie, was im nächsten Moment geschehen wird, und nimmt immer genau das an, was tatsächlich geschieht. Wenn wir es wagen, und ich wähle bewusst das Verb »wagen«, uns als Berater in einen Dialog mit unserem Klienten einzulassen, geben wir alle lieb gewonnenen Mittel der Macht und Kontrolle über die Situation aus der Hand. Wenn wir wirklich in einen Dialog eintreten, geben wir prinzipiell die Möglichkeit auf, das Gespräch zu steuern. Ein Dialog steuert sich selbst organisiert, er ist ein System im luhmannschen Sinne – autopoietisch, selbstreferenziell und operational geschlossen. Als soziales System