Nadine Erdmann

Die Lichtstein-Saga 3: Fineas


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hier mit ihnen lebten, endlich einsahen, dass der Pakt nicht mehr nötig war. Schließlich hatte man die Menschen auch nicht mit solch einem Pakt belegt, nach dem, was Hektor getan hatte – oder was Konstantin jetzt gerade tat. Und Konstantin war sogar noch schlimmer und gefährdete mit seinem Vorhaben nicht bloß einzelne Landstriche oder Mitglieder der hier lebenden Völker, sondern ganz Interria. Wenn deshalb niemand die Menschen mit einem Bannpakt belegte, hatten die Drachen, die sich seit den ersten Tagen Interrias nichts mehr hatten zuschulden kommen lassen, mehr als verdient, dass man ihren Pakt aufhob.

      Ignatius – und auch der Rat der Garde – sahen das genauso und der Klostervorsteher hatte bereits Briefe mit einem entsprechenden Aufhebungsgesuch an alle Völker, die am Pakt beteiligt waren, verschickt. Noah hoffte aus tiefstem Herzen, dass alle zustimmten. Nicht nur, weil die Drachen in den kommenden Kämpfen eine große Hilfe wären. Sie hatten einfach nichts anderes verdient, als endlich ein gleichberechtigter Teil der interrianischen Gemeinschaft zu sein und akzeptiert zu werden – mit all ihren Stärken und Schwächen. Die hatte ja schließlich jeder.

      Wie so oft in letzter Zeit war das der Moment, in dem die kribbelige Vorfreude auf das Treffen mit den Drachen unbehaglicher Nervosität wich, weil Noah sich seiner eigenen Schwächen nur allzu bewusst war. Unwirsch fuhr er sich über die Augen und hob dann seine Hand so, dass er sein Engelszeichen im fahlen Licht, das durchs Fenster fiel, erkennen konnte.

      Es sah aus wie immer. Ein roter Kreis mit vier Strahlen.

      Sein Magen zog sich zusammen bei der Vorstellung, dass es sich verändern könnte.

      Mann, denk nicht dran!

      Grimmig ballte er seine Hand zur Faust und vertrieb die Bilder aus seinem Albtraum, in dem sich sein Zeichen des Lichts schwarz verfärbte und in ein Zeichen der Finsternis verwandelte.

      Es war allein seine Entscheidung, was ihn ausmachte und wofür er kämpfte. Diese beschissene Berührung durch den Schattenmar bestimmte nicht sein Schicksal. Das hatte er selbst in der Hand!

      Livs Worte in der Nacht oben in den Weißen Bergen hatten so unfassbar gutgetan und er wünschte, sie wäre jetzt hier bei ihm. Wenn sie in seiner Nähe war, wurden Zweifel, Ängste und Sorgen so viel kleiner, und er fühlte sich ruhiger und hoffnungsvoller. So, als könnte die Finsternis ihm nichts anhaben, egal wie sehr sie ihre Schattenfäden nach ihm ausstreckte.

      Er biss sich auf die Unterlippe.

      Himmel, es hatte ihn ganz schön erwischt.

      Es war megakitschig, dass er Liv ernsthaft vermisste, obwohl sie sich erst vor ein paar Stunden getrennt hatten und er sie morgen schon wiedersehen würde. Aber irgendwie konnte er an diesen Gefühlen auch nichts ändern. Sie waren etwas völlig Neues für ihn und er genoss sie, obwohl es ihm gleichzeitig auch ein bisschen Angst machte, sich so sehr auf einen anderen Menschen einzulassen und zuzulassen, was Liv da mit ihm anstellte. Heute hatte sie seine Wut abebben lassen, nur weil sie seine Hand genommen hatte. Irgendwie war es beängstigend, dass sie eine solche Macht über ihn besaß – und dass er sie ihr zugestand, weil seine Gefühle bei ihr verrücktspielten.

      Aber irgendwie war es trotzdem okay.

      Irgendwie gefiel es ihm sogar.

      War das schräg?

      Aber er mochte einfach, wie Liv sich in sein Herz, seinen Kopf und seine Seele schlich, weil es ihm guttat – und weil Liv sich dort genau richtig anfühlte.

      Er schnaubte hilflos.

      Okay, die Wahl zu Mister Macho von Interria konnte er damit wohl vergessen.

      Bei der Vorstellung, wie Liv ihm augenrollend in die Seite knuffen würde, wenn sie den Gedanken jetzt gehört hätte, musste er grinsen.

      Mann, es hatte ihn wirklich erwischt.

      Aber nicht nur Liv hatte seine Gefühle verändert.

      Er sah wieder hinaus in den Sternenhimmel, der zwischen den Wolkenbergen hervorlugte. Seit er hierher nach Interria gekommen war, liebte er so viel mehr als in seinem alten Leben. Das Engelslicht hatte ihn mit Kaelan und Ari verbunden und obwohl er sich am Anfang besonders mit Ari schwergetan hatte, waren er und Kaelan in den letzten Monaten seine besten Freunde geworden und er liebte sie wie Brüder – die zwar manchmal tierisch nerven konnten, ohne die er sich sein Leben aber nicht mehr vorstellen wollte.

      Und Ben und Mia …

      Es war seltsam gewesen, zu erfahren, dass er noch Eltern hatte, auch wenn Ben und Mia es ihm leicht gemacht hatten und eher als Freunde aufgetreten waren, als er hierhergekommen war. Sie hatten ihm Zeit gelassen – ließen sie ihm immer noch – und hatten nicht etwa erwartet, dass er sie Mum und Dad nannte. Das hätte er auch schräg gefunden.

      Aber er mochte die beiden. Im Gegensatz zu all den Leuten, die er in der alten Welt als Pflegeeltern gehabt hatte, merkte er bei ihnen, dass er ihnen wirklich etwas bedeutete und sie sich nicht bloß gutmenschmäßig selbstverwirklichen oder Geld vom Staat kassieren wollten. Oder jemanden brauchten, den sie als billige Arbeitskraft ausnutzen konnten. Ben und Mia waren ehrlich und man konnte sich hundertprozentig auf sie verlassen.

      Noah seufzte. Er war nicht begeistert gewesen, als die beiden sie auf der Reise in die Weißen Berge begleitet hatten. Jetzt fühlte es sich allerdings seltsam einsam an, dass sie auf der Reise zu den Drachen nicht an seiner Seite waren. Stattdessen zogen sie am Eingang zur Schlucht in die Roten Berge in einen Kampf gegen Konstantin und Septimus, Schwarze Reiter und vermutlich auch gegen Schattenmare.

      Noah schluckte hart.

      Die Vorstellung, dass die beiden aus dieser Schlacht womöglich nicht zurückkehrten, war unerträglich, und als er sich in der Klosterküche von ihnen verabschiedet hatte, hatte es ihm gefährlich die Kehle zugeschnürt. Auch jetzt spürte er wieder den dicken Kloß im Hals, beim Gedanken daran, dass ihnen etwas passieren könnte.

      Er schloss die Augen und bemühte sich, seine Angst um sie im Zaum zu halten. Ben war ein Ritter der Garde, Mia eine Freiwillige und beide waren ausgezeichnete Kämpfer. Natürlich war das keine Garantie, dass ihnen nichts passieren konnte. So etwas wie Garantien gab es nicht. Das hatte Raiks Tod gezeigt. Er war schließlich auch ein fantastischer Kämpfer gewesen. Aber die beiden waren gut vorbereitet und sie würden vorsichtig sein und auf einander aufpassen. Mehr konnten sie nicht tun.

      Wie so oft spürte Noah, wie die Wut in ihm hochstieg, wenn er daran dachte, wem sie all das zu verdanken hatten.

      Konstantin.

      Es war Noah unbegreiflich, wie man glauben konnte, sich mit Dämonen verbünden zu können. So irre konnte doch niemand sein! Und selbst wenn die Kreaturen aus dem Reich der Finsternis zu einem Bündnis mit einem Menschen bereit waren, war der Preis doch viel zu hoch. Die Bestien würden über Interria herfallen, alle Völker unterjochen und sie wie Sklaven halten, die ihnen Lebensenergie liefern mussten, damit die Schattenwesen im Tageslicht existieren konnten. Tausende würden den Dämonen zum Opfer fallen, gequält werden und sterben.

      Die Vorstellung war einfach nur abartig und widerlich.

      Wie krank musste jemand sein, um so etwas für seine Heimat und sein Volk in Kauf zu nehmen?

      Noah hatte gar nicht gemerkt, wie fest er seine Hand zur Faust geballt hatte. Er öffnete sie wieder und betrachtete sein Engelsmal.

      Er durfte Caya als Waffe nur gegen Kreaturen aus dem Reich der Finsternis einsetzen. Aber was war mit jemandem wie Konstantin? War er nicht genauso schlimm wie die Dämonen, wenn er bereit war, alles Leben in Interria – und auch das in der Alten Welt – zu opfern? War er nicht sogar noch schlimmer?

      Das Wenige, das man über die Kreaturen der Schattenwelt wusste, legte nahe, dass die niederen Wesen wie die Schattenmare mit Raubtieren zu vergleichen waren. Sie nahmen anderen die Lebensenergie, weil sie sie brauchten, um in Interria zu überleben. Zum einen, weil das Sonnenlicht ihnen hier zu schaffen machte, zum anderen raubte ihnen die Macht des Engelslichts ihre Schattenenergie. Dass sie anderen deshalb Lebensenergie raubten, war ihr Überlebensinstinkt. Konstantin dagegen hatte sich vollkommen bewusst und im Wissen um die Konsequenzen dafür entschieden, ein