nickte. »Das meinte Mia auch.«
»Ich packe dir noch Wasser, Brot und Käse ein«, bot Betty an. »Ein Proviantkorb ist nicht verdächtig. Viele Arbeiter nehmen sich etwas mit, wenn sie den ganzen Tag außerhalb von Burgedal unterwegs sind.«
»Gerne, danke!«
Betty tätschelte Liv den Arm. »Nicht dafür, Kind. Du und die anderen Cays riskiert so viel für uns, da sind wir froh und dankbar, dass wir helfen und euch ein bisschen was zurückgeben können.«
Während Betty nach dem Frühstück für den Proviant sorgte, suchte Liv ihre letzten Sachen zusammen. Mia hatte ihr ein paar Lederhandschuhe geschenkt. Die gehörten zur Grundausstattung, wenn man Kräuter sammelte, denn Pflanzen wie Brennnesseln oder Disteln fasste man besser nicht mit bloßen Händen an. Schließlich kam Livs Tarnung als Kräutersammlerin nicht von ungefähr. Mia hatte ihr angeboten, sie in der Heilkunst auszubilden und neben Ari ihre zweite Novizin zu werden – und Liv dachte ernsthaft darüber nach. Sie fand Mias Wissen über die Heilkräfte der Natur absolut beeindruckend und es faszinierte sie ungemein, welche Salben und Pasten, Tränke, Säfte und Tinkturen man damit herstellen konnte. Seit sie aus den Weißen Bergen zurückkehrt waren, hatte Mia Liv dabei helfen lassen, Aris Schulter zu versorgen, damit sie sich auf ihrer Reise um die Wunden kümmern konnte und generell wusste, mit welchen Mitteln sie kleinere Blessuren oder auch größere Verletzungen versorgen konnte. Bei ihrem Gepäck auf dem Eichenhof wartete eine Erste-Hilfe-Tasche, die sie gemeinsam bestückt hatten. Liv mochte die Arbeit mit Mia, hatte allerdings auch einen Heidenrespekt vor der Heilkunst, weil sie keine Ahnung hatte, ob sie sich all die hunderte von Pflanzen und Minerale mit ihren schier unzähligen Eigenschaften, Dosierungs- und Kombinationsmöglichkeiten je merken können würde. Im Moment erschien ihr das wie ein absolut unbezwingbarer Wissensberg und sie war sich nicht sicher, ob sie dem gewachsen war. Als sie Mia von ihren Bedenken erzählt hatte, während sie gemeinsam eine Salbe für Aris Schulter gemischt hatten, hatte die jedoch bloß lächelnd den Kopf geschüttelt.
»Egal, was man lernt, man fängt immer mit kleinen Schritten an. Und ja, als Heilerin gibt es sehr, sehr viel zu lernen. Ich weiß ja bei Weitem auch noch nicht alles und freue mich immer, wenn ich andere Heiler treffe, und wir uns austauschen können. Außerdem probiere ich gerne neue Sachen aus und forsche herum. Das macht mir jede Menge Spaß, weil ich neugierig bin, was es noch alles zu entdecken gibt. Nur darauf kommt es an – und das gilt eigentlich für jeden Job. Du musst neugierig darauf sein und Spaß daran haben. Und ja, bei der Heilkunst ist auch ein gewisser Respekt wichtig, denn einige Dinge, mit denen wir arbeiten, können sowohl Leben retten als auch töten. Aber dass du dir Gedanken darüber machst, ob du alldem gewachsen bist, zeigt nur, dass du sowohl das Verantwortungsbewusstsein als auch den nötigen Respekt besitzt, und genau deshalb traue ich dir diese Arbeit definitiv zu.«
Die Worte hatten gutgetan und sich die ganze Sache in kleinen Schritten vorzunehmen, war ein Ansatz, mit dem sie ganz gut klarkam. Was die Versorgung von Aris Wunden anging, fühlte Liv sich jedenfalls gut vorbereitet, und sie war sich sicher, dass sie das hinbekommen würde. Zur Not konnte Ari ihr schließlich helfen und selbst sagen, was sie mit seiner Schulter machen sollte.
Liv legte die Lederhandschuhe zum Proviant in ihren Korb, steckte ihren Kompass in die Tasche ihres Kleids und schob dann ein kleines Taschenmesser in den Schaft der Wanderschuhe. Zoe hatte ihr das Messer an ihrem ersten Morgen in Interria geschenkt und seitdem trug Liv es immer bei sich.
»Können wir noch irgendetwas für dich tun?«, fragte Betty, als es Zeit war, zu gehen.
Lächelnd schüttelte Liv den Kopf. »Nein, es ist alles perfekt.« Sie blickte von ihr zu Otto. »Vielen Dank für alles.«
»Keine Ursache«, winkte Otto ab. »Möge der Engel euch beschützen.«
Betty schlang Liv gegen die Morgenfrische das Schultertuch um. »Passt gut auf euch auf.« Sie zog Liv kurz in ihre Arme und reichte ihr dann den Korb. »Möge der Engel mit euch sein.«
»Danke.« Gerührt drückte Liv die Hand der alten Näherin, als sie den Korb entgegennahm.
Betty nickte bloß und brachte sie dann zur Hintertür, die auf einen kleinen Innenhof führte. Liv atmete tief durch und warf einen schnellen Blick auf die Fenster der umliegenden Häuser.
Nichts regte sich. Entweder die Nachbarn schliefen noch oder sie saßen beim Frühstück.
Der perfekte Moment, um zu verschwinden.
Liv trat auf den Innenhof und lief zu einem Tor, das auf die angrenzende Gasse hinausführte. Bevor sie durchschlüpfte, drehte sie sich noch einmal um. Betty und Otto standen in der Hintertür und winkten ihr still zum Abschied zu. Lächelnd winkte Liv zurück. Dann trat sie durchs Tor und wappnete sich für ihre Mission.
Die Sonne schob sich gerade über den Horizont und färbte den Himmel in blasses Orange, als Liv leise durch die Gassen lief. Von einer Kreuzung aus konnte sie den Hügel hoch zum Kloster schauen. Die Uhr des Glockenturms zeigte kurz vor halb fünf.
Himmel, seit sie hier in Interria lebte, war sie zu einer echten Frühaufsteherin geworden. In der Alten Welt hatte sie sich nie vor halb sieben aus dem Bett gequält, um rechtzeitig zur Frühstunde zu kommen. Jetzt war Aufstehen bei Tagesanbruch absolut normal, sobald sie auf Reisen waren.
Burgedal schien zu dieser frühen Morgenstunde allerdings noch recht verschlafen. Die meisten Fensterläden und Vorhänge waren noch geschlossen und nur hin und wieder drangen aus geöffneten Fenstern dumpfe Stimmen, das Klappern von Geschirr oder der Duft von geröstetem Brot oder gebratenen Eiern und Speck. Die meisten Bewohner schienen noch friedlich zu schlummern.
Liv hielt sich an kleinere Gassen und mied eine, in der eine Bäckerei lag. Dort herrschte schon reges Treiben und Liv wollte möglichst wenigen Menschen unter die Augen kommen. In Burgedal kannte man sich. Zwar nicht jeder jeden, trotzdem wollte sie kein Aufsehen erregen, wenn die Leute sie in ihrer Gasse noch nie zuvor gesehen hatten. Gerade im Moment waren die Einwohner Fremden gegenüber besonders misstrauisch und sahen zweimal hin.
Bisher hatte sie allerdings nur wenige andere Frühaufsteher gesehen und niemand war in ihrer unmittelbaren Nähe aufgetaucht. Die meisten wirkten müde und verschlafen und gingen ihrer täglichen Wege, ohne dabei groß auf die Umgebung zu achten. Erst als Liv das Südtor erreichte, traf sie auf mehr Menschen. Arbeiter, die sich zu den Feldern und Gemüsebeeten aufmachten, die außerhalb der Stadtmauern lagen. Fischer und Kräutersammler, die frische Ware für den späteren Verkauf besorgten. Hin und wieder nickten sich Leute zu und manche hatten sich am Tor verabredet, um von dort gemeinsam weiterzugehen. Liv wartete in einem Hauseingang ab, bis etwas weniger los war, dann lief sie weiter, an einem der riesigen Torflügel vorbei und hinaus auf die Zugbrücke, die über den breiten Wassergraben führte, der die Stadtmauer umgab. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick hinauf zu den beiden Torwachen, die in den Türmen des Rundbogens standen. Doch die Wachen nahmen kaum Notiz von den Leuten, die die Stadt verließen und zur Arbeit aufbrachen. Sie interessierten sich mehr für diejenigen, die nach Burgedal hineinwollten und davon gab es zu dieser frühen Stunde noch niemanden.
Liv ließ die Stadtmauer hinter sich und schlug hinter einer kleinen Gruppe von Feldarbeitern den Weg nach Süden ein. Erst jetzt merkte sie, wie sehr ihr Herz klopfte und wie fest sie ihre Hand um den Griff ihres Korbs geklammert hatte.
Okay, entspann dich. Du hast es geschafft.
Unwillkürlich musste sie grinsen und fühlte sich plötzlich herrlich frei. Von ihrem Weg aus hatte sie einen wunderschönen Ausblick hinab in den Talkessel, in dem die verschiedenen Felder wirkten wie ein riesiger Flickenteppich. Dunst hing über Getreide und Mais und die Morgensonne ließ die Regentropfen der letzten Nacht auf den feuchten Beeten und Wiesen glitzern.
Wow.
Für diesen Anblick hatte sich das frühe Aufstehen glatt gelohnt.
Beschwingt lief sie weiter und hoffte, dass es die anderen genauso erfolgreich aus Burgedal herausschafften. Zoe hatte die Nacht beim Krämer verbracht und würde getarnt als Feldarbeiterin die Stadt verlassen. Noah, Kaelan und Ari waren bei Mattes untergekommen und wollten sich als Fischer