Edgar Wallace

Das Geheimnis der gelben Narzissen


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die Umstände gekommen war. Sie war also nicht zu Hause. Daß sie gerade an dem Abend verschwunden war, an dem Lyne ermordet wurde, genügte, wie er sehr wohl wußte, um die Polizei auf ihre Spur zu hetzen.

      »Können Sie mir vielleicht sagen, ob Miss Rider Verwandte oder Freunde in Hertford hat?« fragte er den Portier. »Jawohl, Sir, ihre Mutter wohnt dort.«

      Tarling wollte schon gehen, als der Mann noch eine Bemerkung machte, die ihm wieder den Mord mit all seinen grausigen Einzelheiten zum Bewußtsein brachte und ihn aufs neue heftig beunruhigte.

      »Ich bin froh, daß Miss Rider vorige Nacht nicht zu Hause war - die Nachbarn haben sich sehr beklagt.«

      »Worüber denn?« fragte Tarling, aber der Mann zögerte mit der Antwort.

      »Sind Sie ein Freund der jungen Dame?«

      Tarling nickte.

      »Daraus sieht man wieder einmal«, sagte der Portier vertraulich zu ihm, »wie oft Leute wegen irgendwelcher Sachen beschuldigt werden, mit denen sie gar nichts zu tun haben. Der Mieter in der anliegenden Wohnung ist ein wenig wunderlich. Er ist Musiker und beinahe taub. Wenn das nicht so wäre, hätte er nicht behauptet, daß er ihretwegen mitten in der Nacht aufwachte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war draußen auf der Straße Lärm.«

      »Was will er denn gehört haben?« fragte Tarling schnell, aber der Portier lachte.

      »Denken Sie, einen Schuß! Außerdem einen Schrei wie von einer Frau - davon wachte er auf. Man könnte me inen, er hätte das alles nur geträumt, aber ein anderer Herr, der auch im Zwischengeschoß wohnt, hat dieselben Wahrnehmungen gemacht. Und das merkwürdigste ist, daß beide der Meinung sind, daß die Geräusche aus der Wohnung von Miss Rider kamen.«

      »Um welche Zeit war denn das?«

      »Die Leute behaupten, daß es ungefähr um Mitternacht war, aber das ist doch unmöglich, denn Miss Rider war ja gar nicht zu Hause und ihre Wohnung ist unbenutzt.«

      Tarling mußte über diese bestürzende neue Nachricht nachdenken, als er mit der Eisenbahn nach Hertford fuhr. Er war fest entschlossen, Odette zu warnen. Zwar war er sich darüber klar, daß es nicht seine Pflicht war, jemand noch besonders zu warnen, der eines Verbrechens verdächtigt wurde. Sein Verhalten war ungewöhnlich und widersprach jeder Gewohnheit, aber das kümmerte ihn wenig.

      Er hatte seine Fahrkarte gelöst und ging gerade über den Bahnsteig, als er einen Bekannten aus dem Zug, der eben eingefahren war, eilen sah. Offenbar hatte der Betreffende ihn schon vorher erkannt, denn er wandte sich plötzlich zur Seite und wäre im Gedränge verschwunden, wenn ihn nicht der Detektiv zur rechten Zeit eingeholt hätte.

      »Hallo, Mr. Milburgh, Sie sind es doch, wenn ich nicht irre?« Der Geschäftsführer wandte sich um, rieb sich die Hände und lächelte wie gewöhnlich.

      »Das ist ja Mr. Tarling, der Detektiv. Eine schreckliche Katastrophe! Wie furchtbar für alle, die davon betroffen werden.«

      »Das traurige Ereignis hat sicher das ganze Warenhaus in Aufruhr gebracht.«

      »Ach ja«, sagte Milburgh mit gebrochener Stimme. »Wir halten das Geschäft heute geschlossen. Es ist entsetzlich -es ist der grauenhafteste Vorfall, auf den ich mich besinnen kann. Hat man denn schon irgendeinen Verdacht, wer der Täter sein könnte?« Tarling schüttelte den Kopf.

      »Es ist eine ganz geheimnisvolle Sache, Mr. Milburgh. Hat Lyne eigentlich für den Fall seines Todes bestimmt, wer dann die Geschäfte führen sollte?«

      Milburgh zögerte und schien nur ungern zu antworten. »Ich führe die Geschäfte natürlich«, sagte er dann, »genau wie damals, als Mr. Lyne seine Weltreise machte. Ich habe auch schon von Mr. Lynes Rechtsanwälten eine Vollmacht erhalten, die Geschäfte weiterzuführen, bis das Gericht einen Treuhänder ernennt.«

      Tarling sah ihn scharf an.

      »Welchen Einfluß hat denn Lynes Tod auf Ihre persönlichen Verhältnisse?« fragte er schroff. »Verbessert oder verschlechtert sich dadurch Ihre Stellung?«

      »Leider verbessert sie sich, denn ich habe größere Machtvollkommenheit und natürlich auch größere Pflichten. Ich wünschte, ich wäre nie in diese Lage gekommen, Mr. Tarling.«

      »Ich bin davon überzeugt«, erwiderte der Detektiv und erinnerte sich an Lynes Zweifel an der Ehrlichkeit dieses Mannes.

      Nach ein paar allgemeinen Bemerkungen verabschiedeten sie sich.

      Auf der Fahrt nach Hertford mußte Tarling dauernd über diesen Mann nachdenken. Milburgh war in mancher Beziehung zweifelhaft, und es fehlten ihm gewisse Eigenschaften, die ein ehrlicher Geschäftsmann unter allen Umständen besitzen muß.

      In Hertford stieg Tarling in ein Auto und nannte dem Chauffeur seine Adresse.

      »Hillington Grove? Das sind über zwei Meilen«, meinte der Fahrer. »Sie wollen sicher zu Mrs. Rider?«

      Tarling nickte.

      »Sind Sie nicht mit der jungen Dame gekommen, die auch zu Besuch erwartet wird? «

      »Nein«, antwortete Tarling erstaunt.

      »Mir ist nämlich gesagt worden, ich sollte am Bahnhof nach ihr Umschau halten«, erklärte der Chauffeur.

      Noch eine weitere Überraschung erwartete den Detektiv. Er hatte sich Hillington Grove trotz des großartigen Namens als ein kleines Häuschen vorgestellt und war sehr erstaunt, als der Chauffeur in ein großes, hohes Parktor einbog, einen breiten langen Fahrweg entlangfuhr und dann auf einem mit Schotter bestreuten Platz vor einem großen schönen Gebäude hielt. Er hatte nicht vermuten können, daß die Eltern einer Angestellten der Firma Lyne so vornehm wohnten. Sein Erstaunen wuchs noch mehr, als die Haustür von einem livrierten Diener geöffnet wurde.

      Tarling wurde in ein Wohnzimmer geführt, das geschmackvoll und künstlerisch ausgestattet war. Er war fest davon überzeugt, daß ein Irrtum vorliegen müßte, und dachte sich eben eine Entschuldigung aus, als sich die Tür öffnete und eine Dame eintrat.

      Sie mochte Ende der Dreißig sein, aber sie war noch sehr schön und hatte das Auftreten einer Dame der Gesellschaft. Sie war äußerst liebenswürdig zu Tarling, aber er glaubte doch, eine gewisse Ängstlichkeit in ihrem Gesichtsausdruck wahrzunehmen.

      »Ich fürchte, mir ist ein Irrtum unterlaufen«, begann er. »Ich wollte nämlich Miss Odette Rider sprechen -«

      Zu seinem größten Erstaunen nickte die Dame. »Sie ist meine Tochter. Haben Sie irgendwelche Nachrichten von ihr? Ich bin sehr besorgt um sie.«

      »Sie sind besorgt um sie?« fragte Tarling schnell. »Ist irgend etwas geschehen? Ist sie denn nicht hier?«

      »Nein, sie ist nicht hier, sie ist nicht gekommen.«

      »Aber war sie denn vorher nicht hier? Ist sie nicht schon gestern abend hier angekommen?«

      Mrs. Rider schüttelte den Kopf.

      »Nein, sie war nicht hier. Sie hatte mir versprochen, einige Tage bei mir zu verbringen, aber gestern abend erhielt ich ein Telegramm -warten Sie einen Augenblick, ich will es Ihnen gleich holen.«

      Sie blieb nur kurze Zeit fort und kam mit einem braungelben Formular zurück, das sie dem Detektiv übergab. Er las:

      Ich habe meinen Besuch aufgegeben, schreibe nicht an meine Wohnung. Ich werde dir Nachricht zukommen lassen, sobald ich meinen Bestimmungsort erreicht habe. Odette.

      Das Telegramm war auf der Hauptpost in London aufgegeben und trug den Aufgabestempel von neun Uhr abends -also drei Stunden früher, als nach allgemeiner Ansicht der Mord begangen wurde.

       Kapitel 7

      »Kann ich dieses Telegramm behalten?« fragte Tarling.

      Die Dame nickte. Er sah, daß sie nervös und aufgeregt war.

      »Ich kann gar nicht verstehen, warum Odette