Edgar Wallace

Das Geheimnis der gelben Narzissen


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bitte sorgen Sie sich nicht deshalb, Mrs. Rider. Sie hat wahrscheinlich noch im letzten Augenblick ihre Meinung geändert und wohnt bei Freunden in der Stadt.«

      »Haben Sie denn Odette nicht gesehen?« fragte Mrs. Rider ängstlich.

      »Ich habe sie seit mehreren Tagen nicht mehr gesprochen.«

      »Ist vielleicht irgend etwas passiert?« Ihre Stimme zitterte, und sie unterdrückte mit Mühe ein Schluchzen. »Sehen Sie, ich bin seit zwei oder drei Tagen hier im Haus und habe weder Odette gesehen noch - sonst jemand«, fügte sie schnell hinzu und machte bei diesen Worten einen schwachen Versuch zu lächeln.

      Wen mochte sie wohl erwarten? Und warum machte sie eben diese Pause beim Sprechen? War es möglich, daß sie nichts von der Ermordung Lynes gehört hatte? Er beschloß, das sofort festzustellen.

      »Es wäre ja möglich, daß Ihre Tochter durch den Tod von Mr. Lyne in der Stadt zurückgehalten wurde«, sagte er und beobachtete sie scharf.

      Sie starrte ihn an und wurde bleich.

      »Mr. Lyne ist tot?« stammelte sie. »Mußte dieser junge Mann schon so früh sterben?«

      »Er wurde gestern morgen im Hydepark ermordet aufgefunden.«

      Mrs. Rider schwankte und sank in einen Stuhl.

      »Ermordet! -Ermordet -«, flüsterte sie, »o mein Gott, nicht das! Nicht das!«

      Ihr Gesicht war aschfahl, sie zitterte am ganzen Körper, diese stattliche Frau, die vorhin noch mit einer so vornehmen Ruhe in das Zimmer getreten war.

      Plötzlich bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und begann leise zu weinen.

      »Haben Sie Mr. Lyne gekannt?« fragte er nach einer Weile.

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Haben Sie etwas über Mr. Lyne gehört?«

      Sie schaute auf.

      »Nein«, sagte sie ruhig, »nur daß er -nicht angenehm im Umgang war.«

      »Verzeihen Sie, aber Sie scheinen sehr interessiert« - er unterbrach sich, als sie den Kopf hob und ihn ansah.

      Er wußte nicht, wie er diesen Satz beenden sollte. Er war erstaunt, daß die Tochter dieser Frau, die anscheinend in glänzenden Vermögensverhältnissen lebte, als Angestellte in einem Warenhaus tätig war. Er hätte auch gern erfahren, ob sie von Odettes Entlassung wußte und sich deswegen Sorge machte. Die Unterhaltung mit Odette Rider hatte ihm nicht den Eindruck gemacht, als ob sie auf eine Stellung hätte verzichten können. Im Gegenteil, sie hatte davon gesprochen, daß sie sich einen neuen Posten suchen wollte, und das klang nicht so, als ob ihre Mutter in einer günstigen Lage sei.

      »Hat Ihre Tochter es eigentlich nötig, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen?« fragte er plötzlich.

      »Es ist ihr eigener Wunsch«, erwiderte sie leise. »Sie kann sich hier zu Hause nicht recht mit den Leuten stellen«, fügte sie hastig hinzu.

      Ein kurzes Schweigen folgte, dann erhob er sich und reichte ihr die Hand zum Abschied.

      »Ich hoffe, daß ich Sie mit meinen Fragen nicht zu sehr beunruhigt habe. Sie werden sich wundern, warum ich überhaupt hierhergekommen bin. Ich will Ihnen ganz offen sagen, daß ich damit betraut bin, diesen Mord aufzuklären, und ich hoffte, von Ihrer Tochter, ebenso wie von anderen Leuten, die in Beziehungen zu Mr. Lyne standen, etwas zu erfahren, das mir irgendwelche Aufschlüsse gibt, die dann zu weiteren wichtigen Entdeckungen führen könnten.«

      »Dann sind Sie also Detektiv?« fragte sie, und er hätte schwören können, daß ihr Blick angsterfüllt war.

      »Eine Art Detektiv«, sagte er lächelnd, »aber keiner von Scotland Yard, Mrs. Rider.«

      Sie begleitete ihn bis zur Tür und sah ihm nach, als er den Fahrweg hinunterging. Dann schritt sie langsam in den Raum zurück, lehnte sich an den Marmorkamin, legte den Kopf in die Hände und weinte bitterlich.

      Tarling verließ Hertford verwirrter, als er gekommen war. Er hatte dem Chauffeur Anweisung gegeben, am Tor auf ihn zu warten, wo er wieder einstieg.

      Er nahm sich vor, den Mann auszufragen, und erfuhr dadurch, daß Mrs. Rider schon seit vier Jahren in Hertford lebte und in großem Ansehen stand. Er erkundigte sich auch nach Odette.

      »O ja, die junge Dame habe ich öfters gesehen, aber in letzter Zeit kommt sie selten hierher. Nach allem, was man hört, scheint sie sich mit dem Vater nicht recht zu vertragen.«

      »Ihr Vater? Ich wußte gar nicht, daß sie noch einen Vater hat«, erwiderte Tarling erstaunt.

      Ja, der Vater lebt noch. Er kam unregelmäßig zu Besuch. Gewöhnlich traf er mit dem letzten Zug von London ein und wurde von seinem eigenen Auto am Bahnhof abgeholt. Der Chauffeur hatte ihn noch nicht gesehen, aber er erzählte, daß die wenigen Leute, die mit ihm in Berührung gekommen waren, ihn als einen sehr umgänglichen und netten Mann schilderten, der in der City wohlbekannt war.

      Tarling hatte an seinen Assistenten telegrafiert, den ihm Scotland Yard zur Verfügung gestellt hatte, und Polizeiinspektor Whiteside erwartete ihn schon auf der Station.

      »Haben Sie neue Nachrichten?« fragte Tarling.

      »O ja, wir haben etwas Wichtiges herausgebracht«, sagte der Polizeibeamte. »Draußen steht das Die nstauto, wir können die Sache auf dem Weg zur Direktion besprechen.«

      »Was ist es denn?"

      »Wir haben eine Auskunft von Mr. Lynes Hausmeister erhalten. Es scheint, daß er auf eine Aufforderung der Polizeidirektion hin alle Briefschaften Mr. Lynes durchsucht hat. Dabei fand er in einer Schreibtischecke ein Telegramm. Ich will es Ihnen zeigen, wenn wir angekommen sind. Es ist sehr wichtig zur Aufklärung des ganzen Falles, und ich glaube, daß es uns auf die richtige Spur des Mörders führen wird.«

      Bei dem Wort ›Telegramm‹ fühlte Tarling mechanisch in seine Tasche, wo er das Formular aufbewahrte, das Mrs. Rider von ihrer Tochter erhalten hatte. Er zog es heraus und las es wieder durch.

      »Das ist doch zu merkwürdig«, sagte Polizeiinspektor Whiteside, der das Telegramm auch überflogen hatte.

      »Was meinen Sie?« fragte Tarling erstaunt.

      »Ich habe die Unterschrift gesehen - Odette.«

      »Ja, ist an diesem Namen etwas Ungewöhnliches?«

      »Es ist ein sonderbares Zusammentreffen. Das Telegramm, das auf Mr. Lynes Schreibtisch gefunden wurde und ihn in eine bestimmte Wohnung in der Edgware Road bestellte, war auch mit ›Odette‹ unterzeichnet.« Er beugte sich nach vorn und schaute auf das Telegramm, das der erstaunte Tarling noch in der Hand hielt. »Und sehen Sie einmal«, sagte er dann triumphierend, »es wurde zur selben Zeit, um neun Uhr abends, aufgegeben!«

      Als sie nach Scotland Yard kamen, wurden beide Telegramme geprüft, und es zeigte sich, daß Whiteside sich nicht geirrt hatte. Man sandte einen Eilboten zum Hauptpostamt, und zwei Stunden später lagen die Originalformulare vor. Beide waren in der gleichen Handschrift geschrieben. Das erste war an Odettes Mutter adressiert und besagte, daß sie nicht kommen konnte. Das zweite Telegramm, an Lyne, lautete so:

      Würden Sie mich heute abend um elf Uhr in meiner Wohnung aufsuchen? Odette Rider

      Diese neue, unerwartete Tatsache brachte ihn ganz außer Fassung. Er sagte sich immer wieder, daß es unmöglich sei, daß dieses Mädchen Lyne getötet haben könnte. Aber wenn sie es nun doch getan hatte? Wo war es geschehen? War sie in seinen Wagen eingestiegen und hatte ihn während einer Rundfahrt durch den Hydepark erschossen? Aber warum trug er dann dicke Filzschuhe? Und warum hatte er keinen Rock an? Und wie kam es, daß dieses seidene Nachthemd um seine Brust geschlungen war? Er beschäftigte sich in Gedanken mit allen erdenklichen Möglichkeiten. Aber je mehr er sich in die Sache vertiefte, desto rätselhafter schien sie ihm. Niedergeschlagen ging er am Abend zur Polizeidirektion und besorgte sich einen Befehl zur Durchsuchung der Wohnung.

      Dann begab er sich in Whitesides Begleitung