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Methoden der Theaterwissenschaft


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könnte. Sie hat ihren Gegenstand nicht, sie muss ihn allererst ‚konstituieren‘ und dies in jedem einzelnen Fall. Dieser Ausgangspunkt eines in keiner Weise ontologisierbaren Forschungsobjekts und insofern gewissermaßen einer Leere im Zentrum kennzeichnet das Fach als ein sehr spezifisch modernes. Dies geht weit über die historische Tatsache hinaus, dass die Theaterwissenschaft eine junge Disziplin ist, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich aus dem Umkreis der Literaturwissenschaft ablöste und zum eigenen Fach wurde,1 und die insofern bis in die jüngste Zeit mit gutem Recht für sich in Anspruch nehmen konnte, dass sie noch am Aufbau ihrer Grundlagen zu arbeiten hätte.

      Was aber heißt Konstitution: Als grundlegend und genauer abgründig für die Theaterwissenschaft in diesem Sinne erweist sich zunächst einmal, was eher missverständlich als „linguistic turn“2 diskutiert wird. Theater ist uns nur vermittelt durch ein Medium zugänglich: durch die Sprache der Beschreibung seiner Wahrnehmung bzw. Erfahrung. Dieser Einsicht korrespondiert nun allerdings in der neueren Theaterwissenschaft eine zweite, auf die speziell die Erforschung der „theatricality“ oder „théatralité“ in den USA3 und Frankreich4 neue Aufmerksamkeit gelenkt haben: Das sprachliche Medium ist nicht im Sinne eines Instruments zu begreifen, mit dem etwas gesagt werden kann, und auch nicht als ‚begreifbarer Gegenstand‘, sondern viel eher „als ein höchst problematischer Vorgang, in den wir verstrickt, ja eingeschrieben sind“5. Exakt das, was hierbei als ‚Verstrickung‘ bezeichnet wird, kann aber mit Derrida, Nancy und Lacoue-Labarthe auch als Archi-Theater6 oder schlichter als das anfängliche unhintergehbare Theater in jeder sprachlich verfassten Äußerung bezeichnet werden: Diese findet sich von Beginn an in einer ihr gleichursprünglichen, zeiträumlichen und materialen Anordnung vor, die sie zugleich verändert, wie sie auch von ihr verändert wird. Sprache und Theater, so könnte man von daher formulieren, lassen sich nur ausgehend von ihrer wechselseitigen Beziehung betrachten: Theater ist nur sprachlich vermittelt zugänglich, Sprache jedoch immer schon theatral konstituiert und destituiert.

      Missverständlich kann die Bezeichnung eines linguistic turn für diese Erkenntnis – des Verstricktseins von Sprache in Theater, Theater in Sprache – erscheinen, weil sich bei genauerer Betrachtung speziell literarischer, aber auch philosophischer Quellen kaum mehr ausmachen lässt, wann dieser ‚turn‘ denn noch nicht stattgehabt hat. Setzt die Rede von einem „turn“ voraus, dass es ein Vorher und ein Nachher gibt, so wird man bei genauerer Lektüre der philosophischen Texte der abendländischen Tradition keinen ausfindig machen können, der nicht in gewisser Hinsicht bereits von jener Verstricktheit in Sprache gekennzeichnet ist, die mit dem ‚linguistic turn‘ benannt wird. Statt von einem ‚turn‘ zu reden, sollte man also vielleicht eher konstatieren, dass in wiederholter Einmaligkeit der mit diesem ‚turn‘ bezeichnete Wechsel in der Perspektive vollzogen und als nicht mehr hintergehbar erkannt wurde: Bei Platon, bei Rousseau, Kant, Hölderlin, Nietzsche, Freud, Benjamin, Heidegger, Blanchot, Levinas und zuletzt vor allem im Umkreis des ‚Poststrukturalismus‘ bzw. der ‚Dekonstruktion‘ Paul de Mans7 und Jacques Derridas,8 welche die ihnen vorausgehende Tradition auf den Begriff gebracht und in ihr an einer Öffnung hin auf das ‚Singuläre‘9 gearbeitet haben.

      Das Singuläre erscheint, wie speziell Jean-Luc Nancy zu denken gibt, in jedem Fall zusammen mit anderen Singularitäten. Singulär sein, heißt paradoxerweise immer schon: zugleich auch plural sein.10 Wir sind – jede*r einzelne – in dem Maß singulär, wie jede*r in ein spezifisches Netz von Beziehungen verstrickt ist, in einem je anderen Gefüge steht, durch ein anfängliches mitgeprägt wird. Theater in seiner allgemeinsten Form, ‚Theater überhaupt‘11, kann als der paradigmatische Begriff für diese singulär plurale Seinsweise und Erscheinungsform des ‚Mit‘ begriffen werden. Dies wirft nun allerdings die berechtigte Frage auf, wie sich jenes in keiner Weise essentialisierbare ‚Theater‘ zu den je besonderen Fragestellungen einer Allgemeinen und Vergleichenden Theaterwissenschaft verhält und welche methodischen Konsequenzen die Einsicht in die theatrale Verfasstheit hat.

      2. Die Methode (oder der Umweg) der Lektüre

      Die Öffnung auf das Singuläre – des je spezifisch konstituierten Gegenstandes wie der je spezifischen Konstitution in seiner Betrachtung – setzt methodologisch zunächst einmal ein jeder Methode entgegenlaufendes Einspruchs- und Mitgestaltungsrecht des Gegenstandes voraus. Einer der Begriffe, die in die Theaterwissenschaft für die damit bezeichnete Praxis aus dem Kontext vor allem der US-amerikanischen ‚Literary Theory‘ übernommen werden können, ist derjenige der ‚Lektüre‘. Lesen, so gaben Theoretiker wie Paul de Man, Werner Hamacher, Carol Jacobs, Hillis Miller oder Samuel Weber1 zu bedenken, ist im Zentrum der Interpretation wie der Institutionen, die auf ihr aufbauen (Disziplinen, Institute, Fakultäten, Universitäten) ein Akt, der sich auf keine Weise formalisieren lässt. Die Interpretation eines Textes fußt auf dessen Lektüre, ja einem Imperativ der Lektüre – man muss lesen. Und das Lesen unterscheidet sich dabei prinzipiell nicht vom Schauen und Hören der Theaterbesucher*innen. Hier wie da wird in einem einmaligen, wenngleich nur in der Wiederholung zugänglichen Akt ein Netz von Verknüpfungen hergestellt, in dem sich ein Gegenstand erkennen lässt. Doch dieses Erkennen muss zwangsläufig vorläufig, überstürzt, blitzhaft bleiben. Im tendenziell unendlichen Aufschub des Sinns eingeschrieben, eignet es sich so wenig wie die einmalige Konstitution eines Theatervorgangs in seiner Analyse zur dauerhaften Grundlage. Auch die Wiederholbarkeit des Lektüreakts, die etwa Hans-Thies Lehmann als Unterscheidungsmerkmal zwischen Theater- und Literaturwissenschaft anführt2, ändert daran nichts, denn niemals steigen wir als derselbe Leser bzw. dieselbe Leserin in den gleichen Fluss der Sinnproduktion ein. Eben das, worauf die Interpretation fußen möchte, verweist von daher in der Interpretation und über sie hinaus auf den prinzipiellen Zweifel an der Lesbarkeit jedes Textes, einen Zweifel, der sich – kurz und andeutungsweise formuliert – aus dem Textcharakter des Textes selbst ergibt.3 Er muss überall dort vergessen werden, wo Texte auf Thesen reduziert werden, eine von mehreren Les- und Bedeutungsarten auf Kosten aller anderen privilegiert wird. Mit diesem Zweifel beginnt andererseits ein Lesen, das den Text selbst bereits als Inszenierung begreift, als Resultat eines Kompromisses zwischen unterschiedlichen Interessen, bedingt wie begrenzt durch Ort und Zeit seiner Niederschrift wie seiner Lektüre. Jede so verstandene ‚Lektüre‘ bedeutet auch die Eröffnung einer Chance für die in solchem Kompromiss unterdrückten Tendenzen, für das, was sich in einer bestimmten geschichtlichen Situation nicht äußern, bzw. keine Rolle spielen konnte.

      Nur wenn man allerdings den Text bereits als Inszenierung, als Theater begreift – und die zitierten Theoretiker wie eine ganze Reihe weiterer legen dies nahe – können umgekehrt die Inszenierung oder Aufführung auch neuerlich mit einem Text verglichen werden – ohne dass dies die Theaterwissenschaft unmittelbar zurückwirft auf die lange Zeit vorherrschende Auffassung, Theater sei nur die Fortsetzung oder Umsetzung von Literatur auf einer Bühne und insofern mit den Mitteln literaturwissenschaftlicher Interpretationstechniken, letztlich als Teil von Literaturwissenschaft erforschbar. Übertragen auf die Inszenierungs-, Aufführungs- und Dispositivanalyse oder auch nur auf die Analyse und Deutung einzelner Elemente aus diesen – etwa einer schauspielerischen Geste, des bestimmten Verhaltens in einer Szene, einer Sequenz von aufeinanderfolgenden szenischen Anordnungen oder einer räumlichen Einrichtung – ergibt sich aus der Einsicht in die Aporien des Lesens eine doppelte Grundannahme: Jedes theatrale Ereignis ist prinzipiell unendlich ausdeutbar. Jede Lektüre ist prinzipiell unabschließbar. Beide Annahmen ergeben sich, noch einmal anders ausgedrückt, daraus, dass Arbeiten im Theater wie Texte, mit einer von Walter Benjamin geprägten Formulierung, kaum anders denn als „von Spannungen gesättigte Konstellationen“4 zu begreifen sind. Wo ihrer doppelten Unendlichkeit und Unabschließbarkeit zum Trotz eine Beschreibung unternommen, eine Deutung versucht wird, da ist diese unweigerlich an ein Moment gebunden, das man – vielleicht missverständlich – als subjektiv oder – mit Foucault und Butler als kritisch5, in jedem Fall aber als nicht weiter legitimierbar, als nicht länger anders denn im Zusammenhang einer Politik der Lektüre halt- und begründbar bezeichnen müsste.

      Es könnte nun so scheinen, als sollte damit einer willkürlichen, letztlich relativistischen Deutungspraxis das Wort geredet werden: Tatsächlich geht es aber ganz im Gegenteil darum, die Voraussetzung gängiger Deutungspraxis – und damit einer Archi-Methodologie, einer allen weiteren Praktiken der Theaterwissenschaft