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Methoden der Theaterwissenschaft


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im Fach und über Fächergrenzen hinweg. Die Bereitschaft zum produktiven Widerstreit mit Positionen, die aus der eigenen Perspektive zunächst vielleicht nicht ‚theaterwissenschaftlich‘ sind. Die Identifikation von ‚Schulen‘ und ihre Öffnung. Für die hier in Rede stehende Trans-Methodologie geht es freilich um einen innerdisziplinären Prozess der Verständigung, der Prozesse explizit macht, die oftmals implizit ablaufen (und damit störanfällig sind). Im Grunde können wir ja bei aller Differenz – vielleicht glücklicherweise – in einem eher agonistischen denn konsensuellen Modus ganz gut miteinander reden.

      Der unterbrochene Weg. Zu einer Allgemeinen und Vergleichenden Theaterwissenschaft

      Nikolaus Müller-Schöll

      Am 26. Mai 1965 begründet der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, warum er in Absetzung von der bis dahin gebrauchten Bezeichnung „Vergleichende Literaturwissenschaft“ die Komparatistik fortan als „Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ bezeichnet wissen will:

      Zur historischen Untersuchung der faktischen Zusammenhänge zwischen den Nationalliteraturen, die einst die einzige Aufgabe des Faches bildete, ist längst eine systematische, aufs Ganze der Literatur zielende theoretische Bemühung hinzugekommen, die […] der Erforschung des Gemeinsamen gilt.1

      In Anlehnung an diese Definition möchte ich nachfolgend skizzieren, was es unter methodologischen Gesichtspunkten heißen könnte, Theaterwissenschaft im Sinne Szondis und über ihn hinaus als eine nicht nur Vergleichende, sondern auch Allgemeine zu begreifen.

      Dabei setze ich voraus, dass das Fach in seinem gegenwärtigen Stand bereits seit längerem in vielerlei Hinsicht als Vergleichende Theaterwissenschaft bezeichnet werden kann: In ihm wird das lange Zeit – und sei es unreflektiert – als Norm und Maßstab genommene abendländisch-europäische Theater in seiner maßgeblich auf das 17. und 18. Jahrhundert zurückgehenden nationalstaatlichen Ausprägung in den Kontext anderer Kulturbereiche gesetzt, mit denen es, wie sich dabei zeigt, auf vielfältige Weise verflochten ist. So wird zugleich an der Dekolonisierung der eigenen Geschichte und der Öffnung hin auf andere Geschichten gearbeitet. In die Untersuchungen einbezogen werden die vielfältigen Ausprägungen einer im engeren wie im weiteren Sinne theatralen Praxis in Bereichen wie Musiktheater, Tanz, Performancekunst, Happening, Installationskunst sowie Figuren-, Puppen und Objekttheater, aber auch alle jene Erscheinungsformen von Theatralität und Performativität, welche im Anschluss an Rudolf Münz, Andreas Kotte, Helmar Schramm und Gerda Baumbach als „kulturgeschichtlich bedeutsame Materialfelder“2 eines „Theatralitätsgefüges“3 bezeichnet werden können: Neben dem Kunsttheater also auch „die Theatralisierung des Lebens“, das „Anti-Theater“ und das „Nicht-Theater“.4 Über die Betrachtungen von Drama, Skript, Theater und Performance hinaus, die Richard Schechners Modell zufolge zur Analyse theatraler Praktiken gehören5, richtet sich der Blick der vergleichend angelegten Theaterwissenschaft auch auf die unterschiedlichen Organisationsmodelle und Öffentlichkeitsvorstellungen in ihrer historischen Genese und Genealogie.6 Der als spatial7 oder besser topographical turn8 in den Geistes- und Sozialwissenschaften diskutierten neuen Aufmerksamkeit für Raumfragen9 korrespondieren in der vergleichend arbeitenden Theaterwissenschaft Untersuchungen zu unterschiedlichen Ausprägungen des mit Theater verbundenen Raumverständnisses. Sie begreifen den Raum nicht länger als ‚Container‘ oder ‚Schachtel‘, sondern eher als ‚Existential‘ oder ‚Dispositiv‘.10 Untersuchungen der Zeit lösen diese aus einem Verständnis heraus, welches Zeit nur als abstraktes, gleichförmiges Maß begreift. Im Einklang mit einer auf die Phänomenologie, Walter Benjamin und Martin Heidegger zurückgehenden Tradition beziehen sie die Zeitwahrnehmung in die Untersuchung mit ein.11 Die jüngere Diskussion der Illusionsbildung begreift Illusion nicht länger als einen in den Oppositionen von Realismus und Verzeichnung oder Fiktion begreifbaren falschen Schein oder Trug, sondern eher im Sinne des frühen Marx als Ideologie oder notwendige Täuschung.12 Im Einklang mit neueren philosophischen Ansätzen13 wird der Körper in der theatralen Darstellung nicht länger instrumentell begriffen14 und die Rolle des Zuschauers als eine historisch wandelbare betrachtet, als Episteme, die sich in der heute noch geläufigen Form Ende des 18. Jahrhunderts herausbildet, um im Verlauf des 20. Jahrhunderts in eine Krise zu geraten.15 Technik wird mit Heidegger, Kittler, Ronell16 und anderen nicht länger als äußerliche Voraussetzung des theatralen Ereignisses angesehen, sondern als dessen ko-originale oder primordiale Veränderung.17 Untersuchungen des Probenprozesses legen neue Praktiken der Gemeinschaftsbildung im und durch Theater frei.18 Mit Blick auf die französische Unterscheidung von le und la politique (das Politische und die Politik) wird das Verhältnis von Theater und Politik radikal neu bestimmt.19 Theater wird von daher – mit unterschiedlichem Verständnis des von Foucault, Deleuze und Agamben geprägten Begriffes – auch als ‚Dispositiv‘ analysiert, also als „Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen“20.

      Während mithin evident ist, dass man das Fach seiner gegenwärtigen Erscheinungsform nach als ein vergleichendes bezeichnen kann, bedarf seine Erweiterung in Richtung auf eine Allgemeine Theaterwissenschaft, der es, mit Szondis Formulierung für eine Erweiterung der AVL gesprochen, ums „Ganze“ des Theaters oder die „Erforschung des Gemeinsamen“ geht, weiterer Erläuterung. Diese möchte ich nachfolgend in vier Schritten versuchen: 1. Insofern sich als Allgemeines, Ganzes und Gemeinsames des Theaters das Fehlen eines festen Grundes, Fundaments oder metaphysischen Ersten bezeichnen ließe, hätte eine Allgemeine Theaterwissenschaft vom Fehlen einer Grundlage oder eines Fundaments auszugehen. 2. Die solchem Fehlen korrespondierende Methode könnte in einem bestimmten, genauer einzugrenzenden Sinn als Lektüre bezeichnet werden. 3. Als Wissenschaft des fehlenden Grundes wäre eine Allgemeine Theaterwissenschaft in der Tradition des Versprechens ihres Gegenstandes, des Theaters, paradoxerweise exakt die Wissenschaft von der Prüfung und Auflösung der Allgemeinheits-Postulate, Systeme und Methoden. Sie wäre insofern 4. aber auch mit einer radikalen Infragestellung der im Begriff der Methode angelegten Logik von Weg und Ziel und nicht zuletzt der Disziplin der Theaterwissenschaft selbst verbunden.

      1. Ohne Grund

      Nicht selten unterliegt die Theaterwissenschaft dem Spott, es handle sich angesichts der Flüchtigkeit der Aufführung in ihrer unwiederholbaren Einmaligkeit nicht nur um ein Fach ohne Methode, sondern vor allem auch um ein Fach ohne Gegenstand: Während die Literaturwissenschaftler*innen auf die Bibliotheken und die Historiker*innen darüber hinaus auf die Archive verweisen können, blieben den Theaterwissenschaftler*innen von dem, was im Zentrum ihres Interesses steht, nur die Erinnerung in den Köpfen der Zuschauer*innen, die Dokumentation in der zumeist eher unzuverlässigen Form der Theaterkritik oder des Werbetextes der Theater selbst, außerdem die meist unzuverlässigen Zeugnisse der Beteiligten. Dieser Spott verliert nicht sein Moment von Wahrheit angesichts neuerer Aufzeichnungsmethoden und Speichermedien. Sie erweitern zwar die Grundlage, doch stellen sie die Theaterwissenschaft zugleich vor neue Probleme: Der Raum wird hier auf ein Bild verkürzt, das Bild auf binär codierte Daten. Veränderungen der Perspektive, der Rahmung, der Lichtverhältnisse und der Akustik, des Abstands zum Bühnengeschehen und darüber hinaus die meist komplette Unterschlagung der Interaktion im Zuschauerraum sind ebenso zu bedenken wie jene Veränderungen, die sich aus der Ablösung der aufgezeichneten Aufführung vom Ort und aus der Zeit ihrer Aufzeichnung ergeben. Wie gelungen auch immer in technologischer Hinsicht die Aufzeichnung ausfällt, das Resultat taugt allenfalls als Gedächtnisstütze, das hilft, die Erfahrung zu fixieren, als Indiz mit begrenzter Aussagekraft. Kurz: Soweit im Zentrum der Theaterwissenschaft die Inszenierungs- oder Aufführungspraxis bzw. das als Kunst begriffene Theater stehen soll – und nicht eine als gleichsam kybernetische Grundlage konzipierte ‚Theatralität‘ oder ‚Performativität‘ –, taucht zurecht der Verdacht mangelnder ‚Substanz‘ oder fehlender ‚Essenz‘ auf.

      Dieser Verdacht soll hier nicht zurückgewiesen werden, lässt er doch tatsächlich auch eine mögliche Stärke des Faches erkennen. Im Unterschied zu Fächern, die sich auf ‚Grundlagen‘ stützen, muss sich eine Theaterwissenschaft, in deren Zentrum das Theater als Kunst steht, ihrem je besonderen und potentiell singulären