Paul Schmidt

Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945


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wurden in Sachsen und Thüringen kommunistische Regierungen gebildet, die sich offen den Anordnungen der Reichsregierung widersetzten. Bayern wollte sich ebenfalls von Berlin trennen. Im November machte Hitler seinen mißglückten Putschversuch, und die Bayern dachten sogar daran, nach Berlin zu marschieren, um dort Ordnung zu schaffen. Im Westen drohte der Separatismus. Finis Germaniae hieß es allenthalben.

      Das Jahr 1923 bildete einen Tiefpunkt, der viel einschneidender war als alles, was sich bisher nach 1918 ereignet hatte. Er wurde in der späteren Zeit nur von der Katastrophe von 1945 übertroffen. Gleichzeitig aber war 1923 der Wendepunkt. Aus dem Abgrund, in den es hinabgestürzt war, erhob sich das Reich im zweiten Teile dieses Jahres wieder und begann seinen langsamen, mühevollen, aber stetigen Aufstieg, den ich im einzelnen aus nächster Nähe von der Diplomatie her miterlebte.

      Zunächst aber mußte ich nach dem „Examen“ im Haag noch meine mündlichen Prüflingen an der Universität Berlin ablegen, die ich wegen der Haager Reise aufgeschoben hatte. Aus der internationalen Welt des Ständigen Gerichtshofes kehrte ich für kurze und auch recht bewegte Tage wieder in die akademische Atmosphäre zurück; anstatt mich mit völkerrechtlichen Formulierungen in französischer Sprache zu beschäftigen, mußte ich über die altenglischen Verse des Beowulf-Liedes, über Chaucers mittelenglische Canterbury Tales, über Altprovenzalisch, Mittelfranzösisch, über historische Grammatik und die spanische Phraseologie von Cervantes Auskunft geben; anstatt der modernen völkerrechtlichen Theorien beschäftigten mich jetzt wieder für einige Tage die alte und die neue Philosophie in dem mündlichen Examen, das ich Ende Juli, durch das holländische Erlebnis noch etwas verwirrt, nicht gerade mit Glanz bestand. Als frisch gebackener Doktor der Philosophie wurde ich dann am I. August in die Sprachenabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin übernommen.

      Hier geriet ich sofort mitten in den Strudel der damals besonders spannungsreichen Außenpolitik. Zunächst allerdings nur auf schriftlichemWege, denn der Sprachendienst des Auswärtigen Amtes war die Stelle, durch welche sämtliche fremdsprachlichen Dokumente und Auslandsberichte gingen. Ebenso wurden auch alle deutschen amtlichen Schriftstücke ins Französische und Englische oder auch ins Italienische und Spanische übersetzt, die für das Ausland bestimmt waren. Die Abteilung stand unter der Leitung eines meiner Universitätslehrer vom romanischen Seminar der Universität Berlin, des Geheimrats Gautier. Sie war damals im Vergleich zu ihrem späteren Umfang noch recht klein. Sämtliche Übersetzer, ungefähr ein halbes Dutzend, hatten im obersten Stockwerk des historischen Hauses Wilhelmstraße Nr. 76 in einem bibliothekartigen Raum an einer Hufeisentafel Platz. Bei großen Gelegenheiten, wenn es sich darum handelte, Reden des Reichskanzlers oder des Außenministers für die ausländische Presse zu übersetzen, oder während der Verhandlungen mit dem Sachverständigenausschuß für die Reparationsfrage, für den viele Memoranden über die deutsche Wirtschafts- und Finanzlage zu übersetzen waren, wurde die Zahl durch zeitweilige Mitarbeiter fast verdreifacht.

      Unter diesen befand sich schon zur damaligen Zeit eine ganze Reihe von Engländern, Franzosen, Italienern und Spaniern. Geheimrat Gau tier stand mit Recht auf dem Standpunkt, daß Übersetzungen in eine fremde Sprache am besten von Leuten angefertigt werden, die diese Sprache als Muttersprache beherrschen. Von Außenstehenden sind oft wegen der Beschäftigung von Ausländern im deutschen Auswärtigen Amt Bedenken laut geworden. Dabei wurde meist übersehen, daß die fremden Mitarbeiter ja nur mit Dingen zu tun hatten, die ohnedies für das Ausland bestimmt waren oder vom Ausland kamen. Tatsächlich ist mir während meiner ganzen Dienstzeit kein Fall bekanntgeworden, in welchem die Verwendung von ausländischen Hilfskräften zu irgendwelchen unliebsamen Vorkommnissen geführt hätte.

      Dem Ausländer stand jeweils ein deutsches Mitglied des Sprachendienstes zur Seite, um dafür zu sorgen, daß der deutsche Originaltext von dem Ausländer nicht falsch verstanden wurde und die Übertragung nicht nur wörtlich und idiomatisch richtig, sondern auch sinngemäß erfolgte. Bei umfangreichen Texten, die schnell fertiggestellt werden mußten, wurden mehrere solcher deutsch-englischen, deutsch-französischen oder deutschspanischen Arbeitsgruppen gebildet. Ein ebenfalls aus einem Deutschen und einem Ausländer bestehendes Redaktionskomitee vereinheitlichte deren Übersetzungen zum Schluß und brachte sie in die endgültige Form. Dieses System hat sich während der ganzen 25 Jahre meiner Tätigkeit immer wieder gut bewährt. Es war ein sicheres und unfehlbares Mittel zur Herstellung einwandfreier fremdsprachlicher Texte.

      Auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, durch meine Übersetzungstätigkeit an dem deutsch-französischen Rededuell teilzunehmen, in dem auch England gelegentlich durch Äußerungen seiner Staatsmänner seine Stimme hören ließ.

      Kurz nach meinem Eintritt in das Auswärtige Amt war die Regierung Guno, Mitte August, gestürzt worden. Einer der Gründe dafür war eine Note, die wir im Sprachendienst nach ihrer Veröffentlichung übersetzt hatten. Sie war einige Zeit vorher von dem englischen Außenminister, Lord Curzon, an Poincaré gerichtet worden. Gurzon hatte zwar den Franzosen die Widerrechtlichkeit der Ruhraktion auf Grund eines Gutachtens der höchsten juristischen Autoritäten in Großbritannien bescheinigt und auch sonst noch einige für französische Ohren sehr unangenehme Wahrheiten über die wirtschaftliche Nutzlosigkeit des französischen Vorgehens ausgesprochen und auf ihre Nachteile für die zukünftige Entwicklung hingewiesen. Gleichzeitig aber hatte er auch erklärt, es wäre falsch anzunehmen, England beabsichtige, Deutschland aus den von ihm selbst mit verschuldeten Schwierigkeiten herauszuhelfen. Gegen seine Alliierten würde Großbritannien nichts unternehmen.

      Die Regierung Cuno, welche die ganze Zeit über auf die englische Karte gesetzt hatte, sah dadurch ihre Ruhrpolitik als gescheitert an und war nur allzu gern bereit, nach der Annahme eines sozialdemokratischen Mißtrauensantrags im Reichstag ihren Rücktritt zu erklären.

      Nun bildete Dr. Stresemann als Reichskanzler eine Regierung der großen Koalition aus Sozialdemokraten, Zentrum, Demokraten und Deutscher Volkspartei. Er griff sofort in die außenpolitische Entwicklung ein. Es entstand eine Art Zwiegespräch zwischen ihm und Poincaré, in dem jeder in öffentlichen Reden auf die Äußerungen des anderen einging. Durch meine Tätigkeit im Sprachendienst konnte ich die dramatischen Wendungen dieses „Ferngespräches“ genau verfolgen. Noch heute ist mir die Unnachgiebigkeit Poincarés deutlich im Gedächtnis. Seine Äußerungen liefen immer wieder darauf hinaus, daß Frankreich das sogenannte „produktive Pfand“ der Ruhr – das ja infolge des passiven Widerstandes längst aufgehört hatte, produktiv zu sein – nicht eher aus der Hand geben würde, als bis sämtliche Reparationen von Deutschland gezahlt wären. Da die Reparationssumme aber noch gar nicht festgesetzt war, bedeutete dies natürlich, daß Frankreich auf unbestimmte Zeit im Ruhrgebiet bleiben würde. Poincaré hatte noch eine weitere Bedingung gestellt, die Abrüstung Deutschlands. Erst wenn die Kontrollkommission bestätigte, daß diese Abrüstung beendet sei, würde für Frankreich der Augenblick gekommen sein, über die Räumung mit sich reden zu lassen. Wenn sich so Satz um Satz und Wort um Wort die Starrheit Poincarés aus den Übersetzungen enthüllte, wurde mir jedesmal eindringlicher die ganze Hoffnungslosigkeit der deutschen Lage klar. Es schien tatsächlich, als sei das Ende Deutschlands gekommen. Ich hätte mir damals in den dunklen Stunden der Nachtarbeit, die uns oft bis in den frühen Morgen hinein beschäftigte, nicht träumen lassen, daß sich doch noch alles wenden und ich in weniger als einem Jahr mit Engländern, Franzosen und Belgiern in London am Verhandlungstisch sitzen würde.

      Stresemann steuerte von vornherein in seinen Reden, die wir für das Ausland in vier Sprachen übersetzten und die uns ebenfalls manche schlaflose Nacht bereiteten, auf dieses Ziel zu. Er bot Frankreich als Ersatz für das unproduktive „produktive Pfand“ andere umfassendere Sicherheiten und deutete dabei an, daß die deutschen Eisenbahnen und die gesamte deutsche Industrie diesen Zwecken nutzbar gemacht werden könnten, und daß es besser sei, die Leistungsfähigkeit Deutschlands zu erhalten und zu stärken, als durch Beschlagnahme des wichtigsten Bestandteils der deutschen Industriekapazität, der Ruhr, den wirtschaftlichen Ruin des Reiches herbeizuführen und damit Deutschlands Gläubiger mit Sicherheit um jede Aussicht auf irgendwelche Reparationen zu bringen.

      In seinen verschiedenen öffentlichen Äußerungen variierte Stresemann sehr geschickt dieses Thema und bewegtesich langsam tastend auf sein Zielzu. Zunächst jedoch völlig ohne Erfolg, denn als einzige Antwort auf all diese Anregungen ertönte immer nur wieder Poincarés stereotypes: