Paul Schmidt

Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945


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Marx.

      Gleichzeitig trat Ende November fast unbemerkt die entscheidende Wendung auf außenpolitischem Gebiet ein, d. h. in der Reparationsfrage, die unter den damaligen Verhältnissen mit dem politischen Ruhrproblem eng verknüpft war. Am 30. November stimmte nämlich die Reparationskommission der Bildung von zwei Ausschüssen zu, die sich mit der Untersuchung der Zahlungsfähigkeit Deutschlands und mit der deutschen Kapitalflucht beschäftigen sollten.

      Daß dieser Beschluß zustande kam, war nicht zuletzt dem Eingreifen der Vereinigten Staaten zuzuschreiben. Sie begannen damit nach dem Ersten Weltkriege auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet eine ähnliche Rolle zu spielen, wie sie nach dem Zweiten Weltkriege von ihnen offiziell und in größerem Ausmaße zum Vorteil des alten Kontinents übernommen worden ist. Im Gegensatz zu den Jahren nach 1945 nahmen sie damals nur privat an den Bemühungen zur Lösung der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme teil, die sich aus dem Ersten Weltkrieg ergeben hatten. Immerhin aber spielten prominente Amerikaner wie General Dawes und Owen D. Young mit Zustimmung der amerikanischen Regierung eine führende Rolle bei den Untersuchungen der Wirtschafts- und Finanzsachverständigen, die schließlich in dem Dawes-Plan die Grundlage für die im Jahre 1924 auf der Londoner Konferenz getroffenen finanziellen und politischen Abmachungen bildeten. Außerdem wurde damals, wie nach 1945, die amerikanische Finanzkraft, als deren mehr oder weniger offizielle Vertreter die amerikanischen Sachverständigen gelten konnten, entscheidend bei der Lösung der Fragen beteiligt.

      Allmählich begann sich diese neue Entwicklung auch auf meine Arbeit auszuwirken. Im Januar 1924 erschienen die beiden von der Reparationskommission ernannten Sachverständigenausschüsse in Berlin, um hier an Ort und Stelle ihre Untersuchungen über die Zahlungsfähigkeit Deutschlands und über das deutsche Auslandskapital zu führen, das für die Zahlung der Reparationen herangezogen und zur Rückkehr nach Deutschland veranlaßt werden sollte.

      Vor und während der Arbeit der Sachverständigen in Berlin lief der Sprachendienst Tag und Nacht wieder auf vollen Touren. Wir übersetzten die zahlreichen Denkschriften des Finanz- und Wirtschaftsministeriums über die deutschen Verhältnisse. Der Staatshaushalt und die Mittel, ihn ins Gleichgewicht zu bringen, die Handels- und Zahlungsbilanz des Reiches, die Wirtschafts- und Industriepolitik, die Steuerbelastung und vieles andere wurden mit deutscher Gründlichkeit in allen Einzelheiten behandelt. Diese Arbeit war für mich nicht nur sprachlich eine ausgezeichnete Schulung, sie vermittelte mir vor allem auch sachlich einen sehr genauen Überblick über die gesamten Finanz- und Wirtschaftsverhältnisse unseres Landes, der mir bei späteren Verhandlungen noch oft sehr zustatten gekommen ist.

      Der Hauptteil der eigentlichen Dolmetscherarbeit lag aber hier in den Händen von Michaelis, der als Angehöriger des Finanzministeriums in all diesen Dingen selbstverständlich versierter war als irgend jemand anders. Trotzdem mußte auch ich gelegentlich deutsche Sachverständige als Dolmetscher in Kommissionssitzungen begleiten und lernte auf diese Weise die prominenten Mitglieder des Ausschusses auch persönlich kennen.

      Die interessanteste Gestalt war Dawes selbst, der aus ähnlichen Gründen damals so in aller Munde war wie etwa heute der Marshallplan-Administrator Hoffman. Er wurde schon deshalb gleich in der ersten Sitzung sympathisch, weil er die ganze Zeit über Pfeife rauchte. Pfeifenraucher sind nach meinen internationalen Erfahrungen meistens ruhige und umgängliche Leute. Ich habe es auch späterhin noch öfter bestätigt gefunden. Der nächste Pfeifenraucher, zu dem ich Vertrauen gewann und bei dem sich meine Theorie bewahrheitete, war der französische Ministerpräsident Herriot, dem ich noch im selben Jahr auf der Konferenz in London am Verhandlungstisch gegenübersaß.

      Von Dawes hatte ich den Eindruck, daß er nicht denselben Überblick über die komplizierte Materie der deutschen Zahlungsfähigkeit hatte wie andere Mitglieder des Sachverständigenausschusses. In den wenigen Sitzungen, in denen ich ihn erlebte, schien mir seine Hauptstärke mehr in jener bei vielen Amerikanern auch heute noch zu beobachtenden unbekümmerten und formlosen Verhandlungsführung zu liegen. Sie gehen eher mit dem gesunden Menschenverstand als mit gründlicher Sachkenntnis an die Probleme heran und meistern gerade deshalb viele Schwierigkeiten leichter als die Europäer, die vor lauter Einzelheiten und Fachkenntnissen oft den Ausweg aus den Schwierigkeiten nicht erkennen.

      Der eigentliche Kopf des Sachverständigengremiums schien mir damals Sir Josiah Stamp zu sein, jener bekannte englische Wirtschaftler, bei dem sich große Sachkenntnis, besonders auf dem Gebiete des Steuerwesens, mit einer typisch englischen Abgewogenheit des Urteils und vorsichtiger Formulierungskunst paarte.

      Unter den Franzosen fiel mir besonders Parmentier als scharfsinniger Kenner der Finanzfragen auf. Alles in allem hatte ich in den Sitzungen den Eindruck, daß die Sachverständigen der Gegenseite sich durchaus objektiv bemühten, den Tatsachen auf den Grund zu gehen. Ich glaubte zu erkennen, daß sie, weit entfernt von der Verbissenheit Poincarés, den Realitäten mit einer wohltuenden Unvoreingenommenheit ins Auge sahen. Aus verschiedenen Äußerungen konnte ich schließen, daß sie ihre ganze Arbeit auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands abstellten. Das konnte natürlich nur die Rückkehr zu dem Zustand vor dem 11.Januar 1923, d. h. die Räumung der Ruhr bedeuten. Die Sachverständigen schienen auch nicht mehr, wie frühere Reparationsgremien, kritiklos eine Reparationssumme festsetzen zu wollen, ohne sich um die Zahlungsfähigkeit Deutschlands zu kümmern. Im Gegenteil, ich hörte von ihnen immer wieder, daß sich alle ihre Erwägungen auf der Leistungsfähigkeit Deutschlands aufbauten. Das führte dazu, daß sie die Erhöhung der Reparationszahlungen durch eine Steigerung der deutschen Leistungsfähigkeit und nicht, wie früher, durch einen verstärkten Druck auf das Reich zu erzielen suchten.

      So hatte ich denn bereits nach den wenigen Sitzungen, an denen ich teilnahm, das Gefühl, daß die leidige Reparationsfrage nun zum ersten Male von der rein politisehen, unrealistischen Grundlage in eine unsentimentale, sachliche Atmosphäre gebracht worden war. Das erschien mir als ein außerordentlicher Fortschritt und stand in einem so scharfen Gegensatz zu allem, was ich vorher erfahren hatte, daß ich voller Hoffnung auf den Abschluß dieser Arbeiten wartete und glaubte, es müsse sich nun alles zum Besseren wenden.

      Diese Erwartungen erfüllten sich jedoch leider nicht. Im Februar verließen die Sachverständigen Berlin, um ihren Bericht in Paris fertigzustellen. Inzwischen aber wurden wir im Auswärtigen Amt daran erinnert, daß die Politik einen anderen Geist hatte als diese nüchternen Wirtschaftssachverständigen. Poincaré beherrschte nach wie vor das Feld. Das von ihm nicht eingestandene, aber auch in Frankreich immer stärker empfundene Fehlschlagen seiner Ruhrpolitik, das sich u. a. in einem erheblichen Sinken des Franc-Kurses ausdrückte, hatte ihn offensichtlich nachdenklicher gestimmt. Es bedeutete für einen Mann wie ihn zweifellos schon viel, daß er sich überhaupt mit der Ernennung der Sachverständigenausschüsse und einer objektiven Prüfung der deutschen Zahlungsfähigkeit einverstanden erklärt hatte. Aber in den eigentlichen Fragen der deutsch-französischen Politik, insbesondere in der Ruhr-Angelegenheit, war er so unnachgiebig wie immer.

      Die konservative englische Regierung Baldwin war im Januar gestürzt worden. An ihre Stelle trat das Labour-Kabinett MacDonald, auf das man in Deutschland große Hoffnungen setzte, das aber zunächst nur wenig von sich hören ließ.

      Im April hatten wir dann plötzlich wieder sehr viel zu tun. Der Dawes-Bericht war fertig und wurde von uns ins Deutsche übersetzt. Es waren wieder Großkampftage, bei denen jede nur verfügbare Hilfskraft eingesetzt wurde, denn die beteiligten inneren Ressorts wollten natürlich so schnell wie möglich den genauen Wortlaut kennenlernen. Wir gaben ein dreisprachiges Exemplar heraus, in dem auf der einen Seite der englische und französische Text erschien, während der deutsche Text auf der gegenüberliegenden Seite abgedruckt wurde. Hier, wie bei vielen späteren Gelegenheiten, leistete besonders die Reichsdruckerei auch im Setzen fremdsprachiger Texte Erstaunliches.

      Nach meinen verhältnismäßig günstigen Eindrücken von den Berliner Verhandlungen fand ich den Bericht ziemlich enttäuschend. Ich hatte das deutliche Gefühl, daß er in Paris unter starken politischen Einwirkungen zustande gekommen war.

      Die Erinnerung an meine Erlebnisse in der Zeit von 1923 und 1924 steht mir gerade jetzt wieder in allen Einzelheiten so deutlich vor Augen, weil sich heute wie damals die Welt um die wirtschaftliche Liquidierung der unheilvollen Folgen eines großen Krieges bemüht und sich