der zum »Arbeiterkind« avancierte Uwe Johnson sollte sich seiner Mutter zunehmend entfremden. Schon um das Jahr 1948 herum erwähnt der Schulfreund Lehmbäcker Erna Johnson als eine intelligente, aber zunehmend verstörte Frau, die sich deutlich verunsichert fühlte in der Gegenwart ihres opponierenden Sohnes. Ingrid Babendererde im gleichnamigen Buch denkt an Frau Petersen wie folgt:
In Petersens Guter Stube, und seine Mutter ging redend von einem Zimmer ins andere, ohne Aufenthalt redend nach ihrer schrecklichen Weise. (Babendererde, S. 56)
Die Entfremdung hatte neben ideologisch-politischen Gründen vor allem private. Erna Johnson hatte ihrem Sohn das Flüchtlingsmädchen verboten. Sie selbst jedoch hatte wohl im Jahr 1948 eine Affäre mit einem zudem noch verheirateten, kinderreichen Mann gehabt. Der Sohn hat das als schrecklichen »Verrat« am verschwundenen Vater aufgefaßt. In den Jahrestagen, vierter Band, kann man lesen:
Ein beeinträchtigtes Kind. Wichtiger noch als Möbel bei all den Umzügen war eine gerahmte Fotografie des Vaters, ein vergrößertes Führerscheinbild; die Nietösen deutlich sichtbar. Frau Lockenvitz war aber erst fünfunddreißig Jahre alt, als ihr Mann zum Letzten Mal »gesehen wurde«; sie nahm aus seinem Nachlaß nur den Auftrag, den Jungen bis vor die Tür einer Universität zu bringen. (Der Vater hatte Agrarbiologie studiert.) Deswegen war nach dem Fasching 1949 im Schaufenster der Drogerie Mallenbrandt ein erzählendes Foto zu sehen von der Festlichkeit: eine junge Frau, die Brüste zusammengequetscht im Décolleté. Ein Kind, das sich schämt. Ein Sechzehnjähriger, der von seiner Mutter geschlagen wird, weil er nach nächtlichem Herrenbesuch das Bild des Vaters von der Wand nimmt und versteckt; weil sie sich schämt vor dem Kind. Lockenvitz hatte, in einer Zeit knapp an Elektrozubehör, über einem Fenster der Wohnung eine Klingel aufgehängt von jenem Schlitten, der im Osten verblieben war, sie erreichbar gemacht mit eingepichtem Sacksband, so war er aus auf Besuch; nun schraubte er sie ab: überhörte Klopfen an der Tür. (Jahrestage, S. 1724)
Sie hatten es beide nicht leicht. Der strenge Sohn nicht, und nicht die noch lebenslustige Mutter. Ein benachteiligtes Kind und eine benachteiligte Mutter zu Ende der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts in Güstrow, das da gerade von der einen in die andere Diktatur überging. Eigentlich waren sie bereits voneinander getrennt: Deshalb zieht sich, wie im Erstling geschrieben steht, auch ein »Riß« durch das Namensschild der Petersens.
POLITISCHE NEUORIENTIERUNG UND STALINKULT.
SZENEN AUS DER »NEUEN SCHULE«
Der geschilderte private Dissens beförderte seinerseits die politische Umorientierung des seit 1949 »freien deutschen Jungen« Uwe Johnson. Immer konsequenter wird der Schüler Johnson zum politischen Kritiker der Erwachsenen. Die neue Ordnung schien ihm anfangs gerechtfertigt durch die kriegsverbrecherische Barbarei des »Dritten Reichs«, die zu erkennen die »Neue Schule« ihre Schüler so rigide wie unabweisbar lehrte. Daß der Jüngling glaubte, diese Erkenntnis zu Hause in der Feldstraße durchsetzen zu müssen, brachte Züge juveniler Selbstgerechtigkeit ins Spiel. Uwe Johnson mag Ausgang der vierziger Jahre ganz als das Produkt eines Schulunterrichts agiert haben, der den Nationalsozialismus durchgehend als die Sache »der anderen« behandelte. Die Mutter wird dabei zu diesen »anderen« gezählt haben. Dies legen die Begleitumstände nahe, die unter Hinweis auf Stalin durchaus selbstkritisch festhalten:
Mit der schauerlich unbeugsamen Moral des Jugendlichen, der Schuld für sich als künftige Erfahrung ausschliesst, war dieser Jossif Wissarionowitsch angenommen als der Sieger. (Begleitumstände, S. 41)
Daß die »Neue Schule« ihrerseits Personenkult betrieb, lag im Bewußtsein des Schülers als ein »Stück Natur in der Einrichtung der menschlichen Gesellschaften« beschlossen. Vollends in den Mittelpunkt des Schulunterrichts rückte Stalin, seit Johnson im September 1948 auf die John-Brinckman-Oberschule gewechselt war. Diese Anstalt würde die Babendererde prägen und darüber hinaus auch den Abschlußband der Jahrestage. Hier hatte die »Neue Schule« sich durchgesetzt und erhebliche personelle Konsequenzen gezeitigt. Der hochverehrte alte Englischlehrer Wilhelm Müller, er hatte sein Englisch noch in Oxford erlernt (und wird als Kliefoth in den Jahrestagen wieder auftauchen: Kliefoth-Kleiefuß-der mit dem weißen Fuß, also Müller). Wilhelm Müller war damals schon als Direktor der Schule abgesetzt. Wartete – wie dann Sedenbohm in der Babendererde – resigniert auf seine Pensionierung. Darüber steht im zweiten Band der Jahrestage zu lesen:
Nach dem Krieg amtierte Dr. Kliefoth als Direktor der Gneezer Oberschule und hatte für Englischstunden nicht Zeit. An seiner Stelle unterrichtete Frau Dr. Weidling, bis die sowjetische Spionageabwehr herausgefunden hatte, daß ihr Mann nicht Hauptmann bei den Panzern, sondern bei der Abwehr gewesen war und sie ihre Beherrschung der Sprache den Auslandsreisen verdankte, auf die Weidling sie mitgenommen hatte. Da war Kliefoth längst abgesetzt, auch als Lehrer. Englisch wurde dann bis zum Abitur gegeben von einem Junglehrer, der den Vornamen Hansgerhard trug. Er war nicht in England gewesen und erklärte der schweigenden Klasse, daß seine Professoren auf der Universität Greifswald ihm gelegentliche Abweichungen in der Aussprache freigestellt hätten, wenn er die britischen Schallplatten nicht habe nachmachen können. Seine Begründung sei gewesen: er höre das anders. Es war seine erste Lehrerstelle, und es war sein erster Fehler. Danach wies er auf seine Jugend hin und bat die Schüler, sie trotz ihres Rechts auf den Nachnamen mit dem Vornamen anreden zu dürfen; er erwähnte den Neuen Geist der Neuen Schule. Lise Wollenberg meldete sich. – Aber gern, Hansgerhard: sagte sie. Heinz Wollenberg galt noch als Stütze der Gesellschaft, und Lise bekam von dem jungen Mann die Entschuldigung für seinen Wutausbruch. Nach diesem dritten Fehler nannte er nicht mehr alle beim Vornamen. Bei ihm wurde nicht »Der goldene Käfer« von Edgar Allan Poe gelesen. Er nahm durch »Ist der Krieg unvermeidlich?« von Jossif Stalin. (Jahrestage, S. 777 f.)
Der Generalissimus Jossif Stalin betrat auf diese Weise also sogar noch den Englischunterricht. »Zwei Bilder« hat Johnson das entsprechende Kapitel der Begleitumstände überschrieben. Das offizielle Stalin-Porträt erscheint im Buch abgedruckt, eine Ehre, die Adolf Hitler nicht widerfahren konnte. Die seitenlange, von erbittertem Sarkasmus getragene Beschreibung verrät, wie eindrücklich dieses Bild auf Johnson gewirkt haben muß:
In der Stadt, vom Hörensagen im Dorf bekannt, erschien das zweite Bild. Der werte Name war Stalin, J., Josef. Jossif Wissarionowitsch. Im Bilde wurde er meist gezeigt nach der Manier seines Portraits auf dem Frontispiz seines Standardwerkes »Über den Grossen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion«, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1946: ein fülliger Mann mit frappierend glatter Uniformbrust, an einen Harnisch gemahnend, mit wenig Hals im verzierten Kragen und einem straffen Gesicht (keinerlei Pockennarben), das merkbar wurde durch die behagliche Behaarung über Stirn und Schläfen, über den Augenbrauen und unterhalb der Nase. Der Mann, dargestellt in der Verfassung eines fünfzigsten Lebensjahres, tatsächlich den Siebzig nah, liess sich sehen im Halbprofil, den starr glänzenden Blick abwendend auf etwas Erheblicheres als den Betrachter, mit auffällig senkrecht hängenden Armen, als sei er schon längere Zeit unbeweglich und werde so verbleiben, einem Denkmale zu Lebzeiten gleich. [...] Spätestens im Jahre 1950 hatte man sich befriedigend auszukennen in seiner »Kurzen Lebensbeschreibung« von immerhin 158 Seiten, von seinem Geburtstag am 21. Dezember 1879 neueren Stils, dem Abonnementsanlass für die letzte Schulversammlung vor den Weihnachtsferien, bis zu den Schlussfolgerungen, Garantien für edle Noten im Jahreszeugnis. (Begleitumstände, S. 35)
Soweit die politische Panegyrik, mit der sich Stalin in seinen neu errichteten Satrapenstaaten und also auch in der DDR und in Güstrow feiern ließ. Ein Jugendlicher konnte, ja mußte vielleicht dadurch erneut verführt werden. Mit gütigem und unbewegtem Blick schaute der Woschd in die kommenden Jahre des Schülers Uwe Johnson alias Lockenvitz alias Jürgen Petersen hinein – auf ewiges Bleiben eingerichtet. Die Regeln für die Kunstbetrachtung, die dann Professor Shdanow im Namen des Georgiers verkündete (und die Professor Lukács in der DDR populär machen sollte), würden sich als umstandslos austauschbar mit denen erweisen, die man Uwe Johnson noch im Kunst- und Werkunterricht der Kostener »Heimschule« beigebracht hatte. Die neuen Zeiten erwiesen sich irgendwo ganz als die alten. »Pius« Siebmann in der Babendererde wird immer dann zu seiner wahren Lebendigkeit gelangen, wenn er aus den Zeiten der Hitlerjugend erzählt. Auch Uwe Johnsons Abituraufsatz