Bernd Neumann

Uwe Johnson


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für die Zukunft. (Begleitumstände, S. 32)

      Uwe Johnson, zunächst in Recknitz und dann in Güstrow, würde von nun an nicht mehr allzeit zu sagen wissen, wo sein Vater verblieben war. Im Gegenteil: dessen Verschwinden blieb nicht nur unaufgeklärt; ihm mußten von nun an auch taktisch wohldurchdachte Äußerungen in den Lebensläufen und Schulgesprächen des Schülers gelten. Die Restitution der Vaterfigur, die Erkundung ihres Ergehens und ihrer »Schuld«: Sie mußte dem Sohn zwangsläufig zu einem weiteren Hauptmotiv seines späteren Schreibens geraten – was von der Einführung des Heinrich Cresspahl in den Mutmassungen bis hin zu den Jahrestagen gilt.

      Mit Gewißheit rekonstruieren läßt sich, daß Uwe Johnsons Vater noch unmittelbar vor Kriegsende zum »Volkssturm« einberufen wurde. Der »Volkssturm« spielte vor allem an der Ostfront zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Rolle. Es handelte sich dabei um das buchstäblich letzte Aufgebot Adolf Hitlers. Während an der Westfront inzwischen jede Motivation zur Fortsetzung fehlte, erschien das in den Landstrichen, die später die »verlorenen Ostgebiete« heißen würden, noch anders. Hier wirkte die Furcht vor der Roten Armee mobilisierend. Auf sie konnten die Strategen des »Volkssturms« bauen. Am 27. September 1944 erging Hitlers Erlaß über die Bildung des »Volkssturms« an sämtliche Gauleiter. In den letzten Septembertagen muß er auch in Anklam in Erich Johnsons Kenntnis gelangt sein. Der Stil dieses Wagner-Oper-Imitats wird dem Oberkontrollassistenten in den Ohren geklungen haben: er, dicklich gewiß und inzwischen 44 Jahre alt, erfahren vor allem im Umgang mit Rindvieh und Molkereiprodukten, sollte nun das »Versagen aller europäischer Verbündeten« ausgleichen. Und die heranrollende »rote Flut« aufhalten.

      Auf diese Weise wurde der 44jährige Erich Johnson doch noch zum Soldaten. Er sollte, laut Ausbildungsordnung, den Granatwerfer »vollständig« beherrschen und seine Handgranaten im »Zielwurf« einsetzen können. Das besagte die Theorie. In der Praxis wird Erich Johnson mit einem Spaten bewaffnet gewesen sein und vielleicht noch mit einem italienischen Beutegewehr. Er wird seine braune Parteiuniform zum Einsatz feldgrau umgefärbt haben. Der Farbstoff M44 stand zu diesem Zweck in großen Mengen zur Verfügung: die einzige »Wunderwaffe«, die der »Führer« noch bis zur Produktionsreife voranzutreiben vermocht hatte. Sie werden ihm weiterhin das Soldbuch und die vorgeschriebene schwarzweiß-rote Armbinde mit der Aufschrift »Volkssturm« ausgehändigt und ihn, das war ebenfalls vorgeschrieben, nicht weit von seiner Heimat eingesetzt haben. »Nicht weit von der Heimat«: das bedeutete die Ostfront. Der Oberkontrollassistent Johnson erschien damit zu einem ordentlichen Kombattanten gemäß der Haager Landkriegsordnung avanciert. Nach deutscher Lesart. Die Sowjetarmeen sahen das anders.

      DAS VERSCHWINDEN DES VATERS – EIN LEBENSRÄTSEL

      Über Erich Johnsons Kriegserlebnisse wissen wir nichts Sicheres. Es ist jedoch gewiß, daß er dem Soldatentod und der Gefangennahme entging. Auch, daß er nach Anklam zurückkehrte. Erich Johnson könnte es wie dem Zeugen Hoffart ergangen sein, der seinerseits dem »Volkssturm« Kosten zugehörte:

      Ausladung in Warthbrücken. Über Nacht Einquartierung in Barackenunterkunft. Am 21. 1., 4 Uhr, Ausgabe von 72 Schuß Munition je Mann. Um 14 Uhr meldete ein Posten Annäherung der Russen. Die Kp. griff den Gegner an, wurde jedoch im Gegenangriff zurückgejagt. Munition bald verschossen, zahlreiche unerlaubte Entfernungen, ein Teil der Kp. geriet in Gefangenschaft. Hoffart schloß sich mit einigen Versprengten einem Treck an.

      Erich Johnson mag sich ebenfalls mit anderen Versprengten einem Treck angeschlossen haben. Jedenfalls fand der Heimkehrer seine Familie in Anklam noch vor. Das geht aus persönlichen Aufzeichnungen einer damals 22jährigen Anklamer Kindergärtnerin hervor. Mira Jaeger erinnert sich, daß ihre Familie mit den Johnsons zusammen Ende März/Anfang April 1945 von Anklam nach Recknitz treckte: und zwar mit der zu diesem Zeitpunkt noch vollständigen Familie Johnson. Man wurde teilweise auf Lastwagen der zurückflutenden deutschen Armee befördert. Führte auch eigene Fahrräder mit. Kam dabei an Plakaten vorbei mit Aufschriften wie: »Panzerfaust und deutsche Landser sind stärker als die roten Panzer!« Recknitz erreicht, stieg man bei Uwes »Onkel Milding« in der Schmiede ab. Seit dem Februar 1945 lautete, gemäß Uwe Johnsons eigenem Lebenslauf, die Wohnsitzangabe »Recknitz, Schmiede«. Milding wird 1952 sterben. Er war der NS-Blockwart des Dorfes gewesen. Die ehemalige Kindergärtnerin erinnert sich weiter:

      Seine Frau, eine stattliche Person mit großflächigem Gesicht, das blonde Haar zu einem Dutt geflochten, sah ihrem Bruder, Herrn Johnson, meine ich, sehr ähnlich.

      Das Willkommen war offenbar nicht allzu herzlich, insbesondere nicht für Uwe Johnson. Denn es heißt in Mira Jaegers Aufzeichnungen weiter:

      Die Verwandten nahm er ja noch in Kauf, obwohl er an Uwe immer etwas auszusetzen hatte. [...] Einmal, als Uwe, was selten geschah, während eines Gesprächs etwas dazu sagen wollte, brüllte der Schmied: »Du höllst din Muul!« Andererseits, wenn Uwe auf Fragen nur nickte, kam unweigerlich: »Kriggst du din Muul nich up?«

      Der Schmied und der angehende Intellektuelle scheinen einander nicht sonderlich grün gewesen zu sein.

      Etwa zwei oder drei Wochen nach der deutschen Kapitulation (8. Mai), Ende Mai oder Anfang Juni also, gingen Erna und Erich Johnson noch einmal zurück nach Anklam, um zu sehen, ob »die Luft rein« und das Haus noch am Stehen sei. Von dieser Reise kam dann lediglich die Mutter nach Recknitz zurück. Denn als Erich Johnson zum Walmdachhaus in »Mine Hüsung« zurückkehrte, muß er direkt in eine Falle gelaufen sein. Die Stadt war, wie inzwischen auch Recknitz, von der Roten Armee besetzt. Dem Recknitzer Schmied geschah noch im selben Jahr 1945, allerdings nur für kurze Zeit, was Erich Johnson widerfuhr: sowjetische Haft als »Politischer« im von den Siegern übernommenen KZ Neubrandenburg. Warum nun stieß Uwe Johnsons Vater dieses Schicksal zu? »Onkel Milding« schien stärker vorbelastet und kehrte doch sehr schnell wieder nach Recknitz zurück. Erich Johnson dagegen wurde nach Rußland deportiert und starb dort 1946, im März vermutlich. Hier liegt ein Rätsel in Uwe Johnsons Biographie. Das mußte die Phantasie, auch die des Sohnes, anziehen – zumal bereits der Knabe von Onkel Mildings Schicksal und dem anzunehmenden Verschwinden des eigenen Vaters im gleichen KZ »Fünfeichen« mit Sicherheit gewußt hat.

      Dieser Tatbestand zeigt sich zunächst einmal in den Lebensläufen. Der erste »Leipziger« Lebenslauf, wir haben ihn schon kennengelernt als einen, der noch die deutliche Handschrift der Mutter trug, spricht ausdrücklich davon, daß der Vater als »Mitglied des ›Volkssturms‹ gefangengenommen« wurde. Das erscheint aber als offensichtliche Irreführung. Hätten die Sowjets Erich Johnson gefangengenommen, er wäre in einem Kriegsgefangenenlager oder, das geschah Anfang 1945 noch häufiger, als Partisan vor einem Erschießungspeloton gelandet. Doch solches Schicksal blieb Erich Johnson erspart. Johnsons zweiter »Leipziger« Lebenslauf schrieb denn auch ganz nüchtern: »Mein Vater wurde bei seiner Rückkehr nach Anklam im Juni 1945 interniert.« Alle Zeugenaussagen sprechen für die zweite Version; sie kann als gesichert angenommen werden.

      Erich Johnson kehrte mit seiner Frau nach Anklam zurück und wurde in »Mine Hüsung« von den Sowjets verhaftet. Danach wurde der Mann erst nach Neubrandenburg, dann nach Kowel in die Ukraine verbracht, wo er verstarb. Eine weitere, signifikante Änderung in des Sohnes Leipziger Lebensläufen weist in diese Richtung: Spricht noch der erste Lebenslauf bezüglich des Todes des Vaters von den »Aussagen eines entlassenen Kriegsgefangenen«, so korrigiert das der zweite, verfaßt vom nun mündigen Sohn, der jetzt formuliert: »nach Aussagen Zurückgekehrter«. In der Tat war jener Paul Hermann Friedrich Rammin, der dann am 27. Januar 1948 vor dem Standesamt Anklam den Tod des Erich Johnson auf seinen Eid nahm, keineswegs ein Kriegsgefangener. Ihn hatten die Sowjets vielmehr ebenfalls in Anklam interniert. Auch er gab einen »Politischen« ab, aus welchen Gründen auch immer. Im Juni war Rammin nach Rußland verbracht worden, zusammen mit Uwe Johnsons Vater. Per Postkarte würde er sich später, ein Davongekommener, bei Erna Johnson melden.

      Nicht zufällig scheinen die zentralen Änderungen in Johnsons selbstverfaßten Lebensläufen stets bezogen auf das ungeklärte Schicksal des Vaters. Offensichtlich ist auch, daß die Mutter in dieser Hinsicht etwas verbergen wollte. Sie wird Rücksicht auf die Behörden der DDR genommen haben. Ein kriegsgefangener Mann erschien weniger belastend als ein »Politischer«. Doch möglicherweise bestand darin gar nicht der einzige