fiebrig, süchtig, übrigens durchaus in dem wahnwitzigen Wissen, dass die dort geschilderten Personen unwahrscheinlich waren, ihre Handlungen wenig zu empfehlen, kaum wünschenswert. Dies an die Empfindung von Sünde reichende Bewusstsein wurde nur notdürftig beruhigt von der mechanischen Stimmigkeit, in der die Erzählung jeweils sich zusammenfasste. Im Grunde verdankte sich die Faszination der immer von neuem staunenden Einsicht, dass die Namen auf dem Titelblatt einmal wirklich gewesen waren, bis zum Nachweis der Anmeldung bei der Polizei, dass es also Menschen gab, die sich die Welt selber machen können. (Begleitumstände, S. 34)
Der Knabe würde schließlich selbst einer jener Menschen werden, die »sich die Welt selber machen können«: als Autor zur Phantasieproduktion fähig und darin immun gegen den abrupten, früh und traumatisch erfahrenen Verlust alles Vertrauten. Uwe Johnsons große Entdeckung aus dem Jahr 1944, dem Jahr seiner ersten in die Tiefe reichenden lebensgeschichtlichen Verletzung, lautete, in einen den Begleitumständen entnommenen Satz von evangelischer Heilsintensität gefaßt: »Dies war ein Mittel gegen die Zeit, zumindest gegen ihr Vergehen.« (ebd.)
Wenn, wie Erik H. Erikson es als verbreitete Auffassung durchgesetzt hat, die geglückte Beziehung zur Mutter ein »Ur-Vertrauen« zu begründen vermag, ruft deren Mißglücken gewiß das Gegenteil hervor. Wenn die Mutter den Knaben fortgibt, vermag das Opfer dies nur als tiefste Untreue, als Verrat auszulegen. Ein »Ur-Mißtrauen« kann daraus resultieren, das dann lebenslang durch »Verträge« jener früh erfahrenen mangelnden Verläßlichkeit in allen emotionalen Beziehungen aufzuhelfen versuchen wird. Die erste, schreckliche Verlusterfahrung vermag auf der Seite des Kindes das Streben nach Bewahrung des einmal erlebten Schönen hervorzubringen. Kann womöglich ein kognitives Verhalten begründen, das zur Voraussetzung für alle Erinnerungs-Literatur gerät, ein zunächst noch magisch verstandenes Mittel zur Bannung allgegenwärtig drohenden Verlustes?
Ein Vorgriff auch auf die Jahrestage als die summa des Johnsonschen Schreibens erscheint hier am Platz. Die »Katze Erinnerung« tritt, ausführlicher geschildert, zu gerade dem Zeitpunkt in Gesines Leben ein, als Lisbeth diesem ein Ende machen will. Im zweiten Band der Jahrestage steht die folgende Beschreibung zu lesen, die die lebensgeschichtliche Genese des Katzen-Symbols poetisch konkretisiert, in Form einer Geschichte, einer Parabel fast, erzählt. Wie hatte Uwe Johnson gesagt: »Man hat kein anderes Material als seine eigenen Erfahrungen.«
Der Deckel aber war neu, den hatte Cresspahl gemacht, damit ich nicht einen Küchenschemel anschleppte und darauf ins Wasser stieg. – Wenn er fehlte, konnte das ein Versehen sein. Von einem Fremden, ja. Wer aber zum Haus gehörte, wußte das mit der Katze und mir. Es war ein großes graues Biest, massig und faul. Als Cresspahl die Pinnowsche Scheune zur Werkstatt umbaute und in der Futterkammer bei seinem Werkzeug schlief, hatte diese Katze ihn besucht und war bei ihm geblieben. [...] Ich wollte sie zum Spielen überreden; sie aber lag lieber innen am Küchenfenster und besah sich die Vögel. Sie war auch alt, nicht bloß träge. Das Kind stand oft da draußen, hatte den Kopf im Nacken, sah zur Katze hinauf und redete mit ihr, und die Katze sah mich an, als wüßte sie ein Geheimnis und würde es mir doch nicht sagen. [...] – Und deine Mutter, deine Mutter stand dabei? – Ja. Nein. Wenn ich daran vorbeidenke, sehe ich sie. Sie steht dann vor der Hintertür, trocknet ihre Hände in der Schürze, wringt ihre Hände, eins kann das andere sein. Sie sieht mir zu wie ein Erwachsener sich an einem Kinderstreich erheitert und wartet wie er ausgeht [...] – Und sie rührte sich nicht. – Da war ich längst unter Wasser. Ich hatte immer noch ihr Bild bei mir; erst dann fiel mir auf, daß in dem runden Tonnenschacht nur der Himmel zu sehen war. – Dann zog sie dich raus. – Dann zog Cresspahl mich raus. (Jahrestage, S. 617 ff.)
Johnsons »Person« Gesine, als sie noch ein Kind war und ihrerseits vom Ertrinken bedroht, erblickt die Katze, wie man etwas zum ersten Mal ansehen kann, das einem längst vertraut erscheint. Der größte aller Verluste setzt das Symboltier der Johnsonschen Erinnerungs-Literatur mit schockartiger Plötzlichkeit auf seinen Platz. Weil alle Geborgenheit als bedroht und trügerisch erfahren wird, bleibt nur, das Bedrohte im Gedächtnis aufzuheben. Daraus resultiert ein permanentes Eingedenken, entspringt die Erinnerungsliteratur, die Uwe Johnson nun zeitlebens schreiben sollte.
EINE GÖTTERDÄMMERUNG:
KRIEGSENDE UND VOLKSSTURMMANN ERICH JOHNSON
Im realen Leben des Uwe Johnson lief nun alles auf die Auflösung der »Heimschule« im Januar/Februar 1945 zu. Die NaPoLas wurden in aller Regel geordnet aufgelöst, die Schüler nach Hause überführt. Doch gab es im Osten Fälle verzweifelten Widerstands. Uwe Johnson wird noch 1975 aus diesen Tagen der Kostener Götterdämmerung erinnern, daß er die Stadt nicht mitverteidigen »durfte«. In Erste Lese-Erlebnisse hat Johnson darüber hinaus benannt, was es, neben dem blanken Leben, zuallererst vor der heranrückenden Roten Armee zu retten galt: das Buch.
Mittags ist Appell. Alle über vierzehn dürfen die Stadt verteidigen. Die unter vierzehn dürfen bis Einbruch der Dunkelheit behilflich sein im Ausheben von Panzergräben. Bei Lampenlicht sind die Jungmannen aufgestellt vor der Karte des Generalgouvernements, Hände und Rükken beherrscht durch die blaue, die Ausgehuniform, und diskutieren die geographischen Gewinne des Gegners (»der Russen«), statt sie nach den gekrümmten Pfeilen zu betrachten. Vor dem Abendessen wird die Schule geteilt, die jüngere Hälfte packt ein. Das Buch liegt im Koffer obenauf, in einem Griff erhältlich für die Rückgabe. Der Koffer steht auf den unebenen Steinen des Marktplatzes, im Schnee. (Lese-Erlebnisse, S. 108)
In Johnsons zweitem, nüchtern gehaltenem »Leipziger« Lebenslauf steht: »Ich verliess Kosten im Januar 1945 vor dem Einrücken der Roten Armee.« Während die letzten, verzweifelten Abwehrkämpfe vor sich gingen, zog Uwe Johnson mit einem Treck nach Westen. Die Trecks bewegten sich, nachdem bereits am 12. Januar 1945 der mittlere Teil der Ostfront bei Baranow zusammengebrochen war und die besetzten Gebiete Polens für die Sowjets offen dalagen, zahlreich durchs Land. Massenhafter Tod umgab sie. Die deutsche Bevölkerung aus den östlichen Gebieten floh bei schneidender Kälte nach Westen. Helen Wolff erinnert sich:
Entscheidend, und mir mehrfach erzählt, war für den Elfjährigen, der das offenbar am Straßenrand beobachtet hatte, das Zurückfluten des geschlagenen deutschen Heeres und die Flucht von Bevölkerungsmassen. Er hätte, sagt er, bis zu diesem Augenblick alles geglaubt, was man in der Schule (und wohl auch im Elternhaus) von Deutschlands Unbesiegbarkeit und dem Feldherrngenie des Führers propagiert hatte. (Wolff in: »Wo ich her bin ...«, S. 157)
In Recknitz, wo die Familie Johnson auf ihrem Weg nach Westen Zuflucht gefunden hatte, angekommen, erblickte ein jugendlicher Zeitzeuge die folgenden Bilder:
Hinter dem Gemeindewald steht ein Schloss, darin spukt es. Das ist der Tod, der dort vorspricht bei den Flüchtlingen; mit den Trecks aus dem Osten ist die Typhusseuche angekommen. Am Schloss ist ein Begräbnisplatz nur für Personen gräflichen Standes. So werden die Toten auf Erntewagen ins Dorf gebracht, wie Fracht gestapelt, wie Abfall verscharrt. Ein elfjähriges Kind sieht von der Kirchhofmauer aus heimlich zu, da rutscht das Bein einer jungen weiblichen Leiche für einen Augenblick aus der Zeltbahn, bevor der Körper aufschlägt und das schmierige Tuch zurückgezogen wird aus dem Massengrabloch. [...] Von einer Achtzehnjährigen heisst es, in bedauerndem Ton: Gerade Insa war so eigen mit dem Wasser – ein Kind versteht sofort, dass Insa liegt, krank auf den Tod, mit einer Trauer um Insa wird fortan gefälligst weitergelebt, bis zu dem Augenblick dreissig Jahre später, wenn jemand aufsteht und sich weigert, gestorben zu sein, abermals vergeblich. (Begleitumstände, S. 29)
Daß es sich, wie von P. Nöldechen vermutet, bei dem »Schloß« um das Bothmersche, bei Klütz gelegene handelte, ist eher unwahrscheinlich. Gewiß war dort bei Kriegsende ein Typhushospital eingerichtet. Doch der Knabe Johnson, von Anklam aus nach Recknitz treckend, kann schwerlich dort vorbeigekommen sein.
Die Bilder des Grauens können nichts daran geändert haben, daß Uwe Johnson den Abschied aus der »Heimschule« auch als Befreiung empfunden hat. In Anklam kann er sich, wenn überhaupt, nur wenige Tage aufgehalten und die, allerdings nicht mehr vollständige, Familie angetroffen haben. Es fehlte der zum »Volkssturm« eingezogene Vater – womit für Uwe Johnson ein »Zurückgesetztsein« als vaterloses Kind begann:
So ist