am Märzbeginn des Jahres 1940 als einen Akt vorstellen, in dem sich Bekenntnis, Dankbarkeit, Gewährenlassen, Trägheit, Konformismus und Opportunismus ununterscheidbar vermischten: als ein deutsches Syndrom. Der einzige, der immer noch weiter sollte, war der Knabe.
Der besuchte vom April 1940 bis zum Juni 1944 die Comenius-Schule in Anklam, ein guter Schüler. Das Leiden an dieser vor allem preußisch geprägten Schule kann er später authentisch bei Thomas Mann nachlesen – es wird die Identifikation mit dessen Tonio Kröger fördern und auf gewisse Weise die Schriftstellerlaufbahn Johnsons mitinitiieren. Andererseits hing auch an der Wand der preußisch geprägten Schulstube in Anklam das Konterfei Hitlers. Im zweiten Band der Jahrestage kann man darüber nachlesen:
Adolf Hitler ist der Führer.
Adolf Hitler liebt die Kinder.
Die Kinder lieben Adolf Hitler.
Die Kinder beten für Adolf Hitler. (Jahrestage, S. 859)
Und:
Marie, an der Stirnwand des Klassenraums in Jerichow hatte der Spruch gestanden von den deutschen Jungen, die so hart sein sollten wie ein Erzeugnis der Firma Krupp, zäh wie Leder und noch etwas. [...] In Gneez hatten sie in fetter brauner Fraktur an die Klassenwand malen lassen:
»Ihr seid das Deutschland der Zukunft
und wir wollen daher
daß ihr so seid
wie dieses Deutschland der Zukunft
einst sein soll und muß. A. H.«
Auf Mittelachse geordnet. (Jahrestage, S. 934 f.)
Wie auch immer der Grundschüler Johnson sich unterdrückt gefühlt haben mag; seine Zeugnisse fielen überdurchschnittlich aus. Das gab der ehrgeizigen Mutter die Chance, den Knaben für die »Deutsche Heimschule« im fernen Kosten bei Posen anzumelden, ein Internat mit dem strengen Ziel nationalsozialistischer Eliteerziehung. Unverhofft und brutal trat sie an die Stelle familiärer Idylle im Anklamer Walmdachhaus.
Er war daran zu begreifen daß die dörfliche Vertrautheit des verlassenen Ortes verloren war. Die Freunde würden vergessen werden müssen, hier halfen sie einem nicht. Der Wald und der Fluß und daß man jeden Stein im Pflaster kennen konnte: verloren. (Drittes Buch, S. 88 f.)
»Verloren«, hier zum ersten Mal, seitdem immer wieder. Auf die Realisierung des Märchens in »Mine Hüsung« erfolgte jäh der Schubs in die politische Sozialisation, von dem Knaben als eine Art Vertreibung erlebt. Statt normaler Volksschule und freien Nachmittagen auf den Wiesen der Siedlung, in einer Umgebung, die der Knabe inzwischen kennengelernt und zu der seinen gemacht hatte, nun eine Anstalt mit militärischem Drill und, so sieht es aus, sogar verordnetem Boxkampf. Der krude Wechsel erfolgte zur Mitte des Jahres 1944. Er traf einen Zehnjährigen und bildete, ein Trauma mit lebenslangen Folgen, mit einiger Wahrscheinlichkeit vor, was Uwe Johnsons Literatur dann insgesamt prägen wird: den Verlust dessen, was Heimat symbolisiert, aus Gründen der Politik. Eltern- und Liebesverlust, Einbuße alles Vertrauten aus Gründen, die ganz uneinsehbar für den Knaben mit einem fernen, strengen Staat und mit der, wie es in den Mutmassungen heißen wird, »politischen Physik« zu schaffen hatten. Daß ihm der Wechsel zudem in einem Lebensaugenblick zugemutet wurde, als die Familie sich erstmals wirklich auf ein unbefristetes Bleiben eingerichtet hatte, muß die Verletzung förmlich bis in die Fundamente seiner Person getrieben haben. Derart, daß Uwe Johnson diesen ersten, grundlegenden »Verrat« seinen Eltern, der Mutter zumal, nie würde vergeben können: Man hatte das introvertierte, sensible und schmale Kind abrupt der Härteerziehung der neuen Barbaren ausgeliefert. Dabei las der Junge fast süchtig.
Das Alarmsignal war so unübersehbar, es hätte wahrgenommen werden müssen: dies Kind las. Mit zehn Jahren hatte es sich gelangweilt in der Gesellschaft von Winnetou und Karl Mays Bände durchgenommen wie eine Schulaufgabe, da sie als Geschenk zu würdigen waren. Noch die genaueren Indianerbücher waren Pflichtstücke gewesen, Märchen gehörten zur Grundausstattung des Krankseins, waren verordnet wie Medizin, und die Erinnerung misstraut der gefälligen Legende, man habe einmal auf dem Dachboden der Grosseltern, in einer Luft voll sauberen Staubes, von der Sonne geheizt, den »Robinson Crusoe« gefunden. Die psychologische Ausbildung des Wehrwillens durch die militärischen Dreigroschenhefte hatte so wenig angeschlagen, dass das Gedächtnis sich begnügt mit einem einzigen Satz, in dem ein Mann auf einem Flussdampfer dem Bordhund eine Scheibe Brot »hauchdünn« mit Schmalz bestreicht; der Rest dieser Szene ist das einzige, was bedauerlich fehlt. (Begleitumstände, S. 33)
Ein solcher Geschmack wird ihn bereits auf der Grundschule in Anklam vereinzelt haben. Wie viel mehr mußte er das auf der nationalsozialistischen Sonderschule tun. Diese würde ihm, neben anderem, das Lesen zensieren und verbieten wollen. Wer die Heimat nicht und auch nicht seine Lektüre behalten durfte, der mußte sich beides eben schreibend selbst verfertigen. Das Schreiben zum einen als einzig wirksame Therapie gegen das existentielle Verlustgefühl, wie es die Wahrnehmung des unaufhaltsamen Verrinnens der Zeit hervorzurufen vermag. Schreiben darüber hinaus als Mittel gegen den Heimatverlust, der einen, mit schrecklicher Plötzlichkeit, treffen konnte.
An solche Konsequenz war 1944 natürlich noch nicht zu denken. Doch daß er – und noch dazu so plötzlich – fortgegeben wurde, mußte der Knabe zuallererst seiner Mutter als »Schuld« anrechnen, stellte diese doch seine erste Beziehungsperson dar. Noch als die Schwester später, 1963, die krebskranke Mutter zu sich in die Wohnung nahm, statt sie pflegen zu lassen, empfand Uwe Johnson das als eigentlich unverständliche Nähe und Sentimentalität. Die Tiefe der Verletzung schränkte ihm auch da noch die Fähigkeit verstehenden Verzeihens ein.
Zu allem zeichnete sich im Jahre 1944 die Kriegsniederlage für jeden unverkennbar ab. Erna Johnson, realitätsfern und in ihrem Glauben an den »Führer« so hysterisch wie später Uwe Johnsons Figur der Frau Lockenvitz, sandte ihr Kind dennoch in die »Deutsche Heimschule« im fernen Polenland. In diesem aberwitzigen Glauben, spätestens, »verriet« die Mutter ihr Kind. Daß Uwe Johnson später keine je erfahrene »Untreue« vergessen wird, daß er »Treue« als höchsten Wert noch in Nebensächlichstem bewahrte, bis hin zur grotesken, marottenhaften Anstrengung, nie etwas Zugesagtes zu vergessen, und zu der damit verbundenen wahrhaft tragisch-heroischen Anstrengung, Verläßlichkeit zwischen den Menschen einzurichten – das, so scheint es, hat seinen ersten Grund in diesem lebensgeschichtlichen Komplex.
DIE »DEUTSCHE HEIMSCHULE« IN KOSTEN BEI POSEN.
EINGANGSBILDER
Ob Uwe Johnson auf seinen Eintritt in die »Heimschule« vorbereitet war, wie weit er selbst bereit erschien dazu, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. Wohl aber, wie ihm seine »Heimschul«-Zeit ins Bewußtsein trat. Der »Hitlerjugend« kann der Knabe in Anklam aus Altersgründen noch nicht angehört haben, allenfalls dem »Deutschen Jungvolk«. Er selbst hat rückblickend beides unter dem gebräuchlicheren Begriff »Hitlerjugend« zusammengefaßt, hat Zugehörigkeit angedeutet. Dokumente liegen darüber nicht vor. Wohl aber die Äußerung Hans Werner Richters, noch einmal aus dem Etablissement der Schmetterlinge, derzufolge Johnson nach einer Auseinandersetzung einmal gesagt haben soll: »So schlecht hat man mich nicht einmal in der Hitlerjugend behandelt.« Richter weiter:
Auch er dachte ja an seine Biographie, wie Heinrich Böll [dessen Äußerung in dieser Richtung nachgerade notorisch war], auch er sagte einmal in einem anderen Zusammenhang, »ich werde mir doch nicht meine Biographie kaputtmachen«. Ich habe das nie begriffen, ich hielt den Gedanken daran fast für lächerlich. (Richter, Etablissement der Schmetterlinge, S. 181)
Es scheint allerdings, daß Uwe Johnson in diesem Punkt nicht anders dachte als sein Freund Hans Werner Richter. Nirgends hat er versucht, seine Zugehörigkeit zu Hitlers »Jungvolk« zu verbergen. In den Begleitumständen steht vielmehr:
Unter [Hitlers] Kommando verdarb der Sonntag, wenn die Jugend seines Namens in geschlossener Formation, Uniform Vorschrift, abmarschierte zum Besuch von Filmvorführungen über Leute wie Bismarck oder Rudolf Diesel. (Begleitumstände, S. 26 f.)
Man kann also nicht ausschließen, daß der Knabe Uwe zeitweilig einem beflissenen Hitlerjungen