Bernd Neumann

Uwe Johnson


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Zukunft vorbereitet wurde, war mecklenburgisch: das Dorf Recknitz, die Stadt Güstrow.

      Im Krankenhaus von Cammin (oder auch: Kammin; Johnson gebraucht beide Schreibweisen), an der Dievenow also, dem heutigen Kamień Pomorski an der Dziwna, kam Uwe Johnson am 20. Juli 1934 zur Welt. Die Kreisstadt, im Verwaltungsbezirk Stettin gelegen, beheimatete in den dreißiger Jahren rund 6000 Einwohner. Als »verlorene Heimat« sah Uwe Johnson Cammin auch später nicht, wenn er den Ort anläßlich von Besuchen bei seinen Großeltern auf Wollin wiedergesehen hat. Cammin besaß bereits alle Ingredienzen, um zu einem »Wendisch Burg«, dem Spielort des Erstlings Ingrid Babendererde, zu werden. Sein Dom, errichtet im Jahr 1176, stammt noch aus der Hansezeit der Stadt und gehört der Backsteingotik an. Einer, der die Gegend ebenso gut kannte wie Uwe Johnson selbst: der Chef der Gruppe 47, Hans Werner Richter, hat anschaulich, weil auf eigene lebensgeschichtliche Erfahrung gestützt, im Etablissement der Schmetterlinge geschrieben:

      Die Stadt heißt Cammin. Es ist eine Kleinstadt, eine Landstadt, halb bäuerlich, halb proletarisch, sehr arm, aber sie besitzt einen Dom, den ich schon in meiner Kindheit als den Camminer Dom kannte. Cammin liegt an der Dievenow. Hier, zwischen den beiden Inseln Usedom und Wollin, läuft die Oder mit drei Mündungsarmen ins Meer, mit der Peene, der Swine und der Dievenow. Bevor die Oder mit ihren drei Armen ins Meer kommt, muß sie noch durch das große Haff und durch das Achterwasser, große, fast riesige Wasserbecken. Da auch die beiden Inseln von Seen durchzogen sind, muß man von einer Wasserlandschaft sprechen, einer Landschaft des Meeres. Die Dievenow ist der östlichste der drei Mündungsarme, und hier an der Dievenow, in der kleinen Stadt Cammin, wurde Uwe Johnson geboren. (Richter, Etablissement der Schmetterlinge, S. 173)

      Richter spricht auch an, was für das Kind Uwe Johnson noch wichtiger gewesen sein wird als die Geburtsstadt Cammin: nämlich die Insel Wollin – von der Ostsee durch das Stettiner Haff, von Usedom durch die Swine und vom Festland durch die Dievenow getrennt. Auf Wollin verbrachte der Knabe glückliche und lebenslang unvergeßliche Ferien auf dem Hof der Großeltern mütterlicherseits. Was sich im Lied der Pommern eher einfach artikuliert: »Blaue Wälder krönen/Weisser Dünen Sand./Pommernland, mein Sehnen/Ist dir zugewandt« – für Uwe Johnson galt es seit frühen Kindertagen: Die Insel geriet ihm zu einem Ort der Sehnsucht, zu einem Refugium vollends vor den politischen Forderungen des Schulalltags. Zeitlebens gedachte er der Stunden an diesem Ort, in den Mutmassungen hat er ihnen ein erstes Denkmal gesetzt:

      Oder war er es selbst, der glücklich gewesen war in dem weiten Land am Wasser auf dem grossen Hof, wo unzählig nebeneinander die Leiterwagen standen in der Sonne und die Luft der blühenden Linden gewichtig vor den kühlen Zimmern stand, über dem klaren Spiegel des frühen Flusses, in dem fügsamen Knistern des Schilfs an der schweren Biegung des Kahns?

      Die Erinnerung, wie sie in den zitierten Zeilen aufblitzt, galt dem, was man Uwe Johnsons allererste Heimat nennen könnte und was vor ihm bereits den Malern Caspar David Friedrich (geboren in Greifswald) und Philipp Otto Runge (geboren in Wolgast) Heimat und Inspiration gewesen war. In beider Landschaftsbilder ist die Ostsee-Küsten-Landschaft eingegangen, findet dort ihren Ausdruck im Sehnsuchtsblick übers Wasser. Das Wasser, auf das der Betrachter dieser Bilder blickt – und diesen Tatbestand haben Caspar David Friedrichs und Philipp Otto Runges Gemälde mit Uwe Johnsons literarischem Werk gemein – ist immer die Ostsee. Dabei gilt, was wiederum Hans Werner Richter in seinem Buch über Pommern geschrieben hat: »Meer, Steilküste, Kreidefelsen, Seen, das Haff, das Achterwasser, Flüsse, Meeresarme und Häfen – und die Landschaft ist romantisch. Auch ein Realist kann sie nicht anders sehen.« Auch der Landschaftsepiker Johnson wurde in diesem Zusammenhang zu einem Romantiker aus Realismus.

      Erste Heimat auf Wollin also, wie sie ein Leben lang in der Erinnerung eines Menschen als Vorschein unablässig gesuchten Lebens präsent sein kann. Doch wirkliche Heimat muß erträgliches Leben auch für den anderen, den Fremden zumal, bedeuten. Diese Wahrheit hat sich im Fall des Uwe Johnson bestätigt, eingebettet in die Verhältnisse der Familie Sträde, der Vorfahren mütterlicherseits. Bei den Eltern Uwe Johnsons wurde der damalige »Führer und Reichskanzler« Adolf Hitler durchaus geschätzt. »Noch als Briefmarke kam er ins Haus; was nützte die Faust, die ihm heimlich aufs Gesicht schlug.« Auf Wollin war das anders; besser; gerechter. Da nämlich »schwoll« Hitler zur Gefahr an, »wenn bei den Grosseltern die Kriegsgefangenen am Tisch essen durften, und er grinste, wenn sie vor dem Besuch des Ortsbauernführers in die Küche gebeten werden mussten«, so hat Johnson selbst in Begleitumstände sich dieser Ferientage entsonnen (S. 26). Im »fügsamen Knistern des Schilfs« auf Wollin blitzte dem Autor der Mutmassungen also die heilsame Erinnerung an die selbstverständliche Humanität gemeinsamen Essens mit den Fremden auf, wie sie bei den Großeltern praktiziert wurde. Auch politisch stellte dieses Wollin also eine Insel dar in Hitlers gleichgeschaltetem Reich. Auch deshalb liebte der Knabe sie so sehr. Inseln als Orte imaginierten Friedens und als Zuflucht vor Verfolgung würden in der späteren Biographie des Mecklenburgers eine große Rolle spielen, bis hin zur Umsiedlung auf die Themse-Insel Sheppey im Jahr 1974.

      In Cammin dagegen war die Atmosphäre eine andere. Die Kreisstadt lag näher am politischen Geschehen jener Tage. Hans Werner Richter erinnert sich im Etablissement der Schmetterlinge weiter:

      Einmal, lange vor Uwes Geburt, habe ich in dieser Stadt unter roten Fahnen demonstriert, drei Jahre vor Hitlers Machtantritt, doch es gab dort nur Deutschnationale und Nationalsozialisten, SA-Leute und Stahlhelmer, und so wurden wir durch die Stadt gejagt, mit Beschimpfungen, mit Gejohle und mit schrecklichen Wurfgeschossen, die aus allen Fenstern kamen. Seitdem haßte und fürchtete ich diese Stadt. Sie war für mich der Inbegriff der Reaktion und bornierten Rückständigkeit. (Richter, Etablissement der Schmetterlinge, S. 173)

      Gesellschaftliche Unterschiede mögen hinzugekommen sein, die Hans Werner Richter in die Überlegung gefaßt hat, daß

      Uwes Vater [...] Milchinspektor [war], und mein Vater war Fischer, ein kleiner, aber trotzdem gravierender Standesunterschied in der damaligen pommerschen Gesellschaft. Ein Milchinspektor gehörte dem kleinen Bürgertum an, ein Fischer aber nicht, der eine wurde bis zu einer bestimmten Grenze mehr von unten herauf angesehen, der andere von oben herab, ein Milchinspektor inspizierte die Milch eines ganzen Bezirks, er stand wahrscheinlich einer großen Molkerei vor, besaß also bedingte Macht und war ein geachteter Mann, ein Fischer aber fuhr Tag für Tag und oft jede halbe Nacht aufs Meer hinaus und mußte sehen, wie er seine Fische verhökern konnte. (ebd., S. 173 f.)

      In der Tat: Uwe Johnsons Vater zählte zu den Honoratioren, darin das Idol seiner eigenen Frau. Sie hat, wie bereits erwähnt, ihre Hochachtung vor dem obersten kontrollierenden Molkereiassistenten des Landkreises noch in die Lebensläufe des Sohnes hineinredigiert.

      Die soziale Stellung des Vaters mußte die Neigung der Eltern, an das »Dritte Reich« und seinen »Führer« zu glauben, bestärken. Der Sohn Uwe hat seine soziale Herkunft mit der ihm eigenen Sachlichkeit in Daten des Lebenslaufs (bislang unveröffentlicht) beschrieben:

      Mein Name ist Uwe Klaus Dietrich Johnson. Ich wurde geboren am 20. Juli 1934 in Kamien (Kammin/Pom.). Mein Vater Erich Johnson, Diplomlandwirt, starb 1946. Er war beschäftigt als Kontrollassistent und Tierzuchtwart von der Molkerei Anklam und vom Tierzuchtamt Greifswald. Meine Mutter Erna Johnson geborene Sträde (49), bis zum Tode meines Vaters Hausfrau, arbeitete danach als Heimerzieherin und Näherin, schliesslich als Schaffnerin der Reichsbahn; sie verliess die Demokratische Republik persönlicher Umstände wegen im Herbst 1956. Ich habe eine achtzehnjährige Schwester, die Stenotypistin ist und mit meiner Mutter die Republik verlassen hat.

      Der Vater Erich Ernst Wilhelm Johnson, 1900 geboren, war seit dem 6. November 1931 mit Erna Johanna Sträde, geboren den 15. März 1909, verheiratet. Beide kamen aus ländlichem Milieu. Beide nahmen, als ihre gemeinschaftliche Lebensaufgabe, den sozialen Aufstieg in Angriff. Uwe Johnson selbst hat dazu geschrieben, in seiner Vorstellung als neues Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (veröffentlicht in deren Jahrbuch 1977), er habe

      eine Bauerntochter aus Pommern zur Mutter [...], jedoch nicht aus jenem hinteren Landesteil, von dem es lateinisch heißt, er singe nicht, sondern aus dem Gebiet westlich der Oder, 1648 schwedisch und 1720 preußisch geworden, was einem 1934 Geborenen als Obrigkeit