Bernd Neumann

Uwe Johnson


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hatten.« Johnson sagte aber auch, im gleichen Zusammenhang: »Nicht der Führer stand im Mittelpunkt meines Lebens, sondern meine Eltern.« Doch 1944, in der vierten Klasse, wurden ihm seine Kopfform, seine guten Schulleistungen und die Einstellung seiner Eltern zum Verhängnis. Da nämlich suchte eine der Kommissionen, die durch das Reich reisten, auch Uwe Johnson aus, um den blonden Jungen im verschärften Geist der nationalsozialistischen Elite erziehen zu lassen.

      Die »Deutsche Heimschule« in Kosten bei Posen, heute polnisch Koscian, galt als eine etwas weniger elitäre Ausgabe jener »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten«, die Hitler sich hatte errichten lassen, seinen Nachwuchs für die Kolonisierung der Welt heranzuziehen. Die Kostener Elite mithin war eine Elite der zweiten Wahl. Uwe Johnson erfüllte zwar, was Herkunft, Kopfform, Körperbau und Schulleistungen betraf, alle Vorbedingungen für die Elitezugehörigkeit im »Dritten Reich«. Wohl aber störte des Schülers Augenfehler. Erna Johnson hatte ihn doch nicht in Gänze zu korrigieren vermocht.

      Dezidiert gehen Johnsons Lebensläufe, anders übrigens als später die Begleitumstände, auf die Zeit in Kosten ein; der früheste, geschrieben wahrscheinlich 1952 in Güstrow, wie folgt:

      Ich wurde im Frühjahr 1940 in der Comenius-Schule in Anklam eingeschult, die ich bis zum Abschluss der 4. Klasse besuchte. Bei einer allgemeinen Auslese wurde ich für den Besuch einer »Deutschen Heimschule« vorgeschlagen. Vom Sommer 1944 bis zum Januar 1945 war ich der Schüler der »Deutschen Heimschule« Kosten bei Poznan/Posen. Nach der durch das Vorrücken der Roten Armee verursachten Auflösung der Heimschule lebte ich bei meinen Eltern in Anklam.

      Die Neutralität der Schilderung fällt ins Auge. Eine Beteiligung der Eltern wird nicht erwähnt. Die Stilhaltung erscheint, selbstverständlich, für die damaligen Behörden der DDR berechnet. Verrät zudem noch die Handschrift der Mutter. Dagegen im später, 1954 wohl, geschriebenen Lebenslauf steht, nun bereits im gestrafften und geschmeidigeren Stil, der Einsatz allein erklingt wie ein kleines Fanal:

      Ich heisse Uwe Johnson. Meine Eltern sind der Diplomlandwirt Erich Johnson und Erna Johnson, geborene Sträde. Ich wurde geboren am 20. Juli in Cammin in Pommern. Mein Vater arbeitete bis 1945 als Angestellter des Greifswalder Tierzuchtamtes als Tierzuchtwart und Kontrollassistent der Molkerei in Anklam. Dort besuchte ich bis 1944 die Volksschule. 1944 gab mich mein Vater in die Deutsche Heimschule Kosten.

      Der Vater gibt hier das Kind fort – in der Formulierung des letzten Satzes gerät zum ersten Mal die Beteiligung der Eltern ins Bild. Doch der Vater soll es damals gewesen sein, ohne Beteiligung oder gar Einverständnis der Mutter? Als dieser Lebenslauf geschrieben wurde, lebte Erna Johnson noch in der DDR. Darin ist meines Erachtens der hauptsächliche Grund für die ausschließliche Nennung des Vaters zu sehen. Erich Johnson lag zudem zu diesem Zeitpunkt bereits in russischer Erde begraben, und die Johnsons wußten dies. In der Abfolge der Lebensläufe spricht ein fortgegebenes Kind, das sich schrittweise an die Verantwortlichen seiner Verstoßung heranarbeitet.

      Im Verlauf dieses Prozesses wird der Vater, je später, desto mehr, exkulpiert. Dennoch: Die Wunde, die die Verstoßung einst zugefügt hatte, vernarbte allenfalls oberflächlich. Es erscheint schon als auffällig, wie sich die stilistische Geste des Fortgegeben-Werdens wiederholt, wenn es um die »Heimschule« geht. Noch 1981 schrieb der, der da bereits fast vierzig Jahre Abstand zu seinem Dasein als »Jungmann« besaß, an seinen Schulfreund Lehmbäcker: »1944 war ich in eine ›Nationalpolitische Erziehungsanstalt‹ getan [!], eine Kaserne von einem Internat.« Der sonst allem englischen Understatement zugetane Johnson nordet hier die »Heimschule« zur NaPoLa auf. In den selbstbiographischen Passagen seiner Literatur freilich hat er die Verantwortung des Vaters in gleichem Maße reduziert, wie er die der Mutter zumindest konstant erhielt. Im Gegensatz zum oben zitierten Lebenslauf wird es in den Jahrestagen die in religiöser Hysterie befangene Lisbeth sein, die ihr Kind fortgeben will. Cresspahl rettet seine Tochter, führt also aus, was in der Realität des Sommers 1944 Erich Johnson nicht möglich gewesen war.

      Weiterhin erscheint in diesem Zusammenhang signifikant, daß jene Darstellungen, die sich aus Johnsons Rückerinnerung an die eigene Jugend speisen, auch Achims Jugendgeschichte im Dritten Buch und die Geschichte des Schülers Lockenvitz im Abschlußband der Jahrestage, die Rolle des Vaters je später, je deutlicher abtönen. Mehr oder weniger gezwungen stimmt Achims Vater der Polit-Karriere seines Sohnes zu. Im Fall des Lockenvitz schließlich wird recht unkaschiert verhandelt, worum es in der Realität von 1944 gegangen sein mag: Der Vater sagt ja zum NaPoLa-Plan, »vor die Wahl gestellt [...]: Einziehung zur Wehrmacht, oder ein anderes Bekenntnis zum Hitlerstaat.« (Jahrestage, S. 1722) Durch die Fortgabe des Knaben konnte der Vater bei der Mutter bleiben – bis kein Jahr später auch er »Mine Hüsung« verlassen mußte, um in den »Volkssturm« einzurücken.

      DIE »DEUTSCHE HEIMSCHULE« ALS INSTITUTION

      Uwe Johnsons Aufenthalt in Kosten brachte ihn in zentrale Bereiche des braunen Erziehungswesens. Auf dem Reichsparteitag von 1935 hatte der »Führer« ausgeführt: »In Zukunft wird der junge Deutsche von einer Schule in die andre gehoben werden. Beim Kinde beginnt es, und beim alten Kämpfer wird es enden. Keiner soll sagen, daß es für ihn eine Zeit gibt, in der er sich ausschließlich selbst überlassen sein kann.« Uwe Johnson hat die Realisierung dieses Versprechens – oder lag hier eine Drohung vor? – am eigenen Leib erfahren. Mit zehn Jahren konnte ein Kind in eine NaPoLa aufgenommen werden. Insgesamt existierten etwa vierzig dieser Anstalten im gesamten Reich. Sie waren meist in Schlössern oder beschlagnahmten Klöstern untergebracht, in repräsentativer Umgebung jedenfalls, das Selbstgefühl der künftigen Elite auch durch entsprechendes Ambiente zu festigen. Als Vorbild galt die berühmte, herrscherlich über dem See gelegene, vormals kaiserliche Kadettenanstalt im holsteinischen Plön. Ursprünglich waren die NaPoLas eine Gründung der SA und als ein Geschenk zum Geburtstag des »Führers« 1933 gedacht. Nach dem 30. Juni 1934, dem Datum des sogenannten Röhmputschs, fielen sie an die SS. Im Lehrplan der NaPoLas stand herkömmlicher Schulunterricht neben militärischer Ausbildung. Letztere lief wahlweise auf eine der drei Waffengattungen zu oder auch auf die Waffen-SS. Daß eine Mehrzahl der sogenannten Jungmannen gerade der Waffen-SS den Vorzug gab, kann nicht überraschen.

      Neben den »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten« (offizielle Abkürzung: NPEA) und neben den vor allem in Holland und Flandern gegründeten »Reichsschulen« gehörten die »Deutschen Heimschulen« zum engeren Bestand der sogenannten nationalsozialistischen Sonderschulen. Für sie alle galt ein vergleichbar strenges Auswahlverfahren. Die reisenden Auswahlkommissionen sollten übrigens auch eine zu ausschließliche Selbstrekrutierung der NSDAP verhindern. Das hatte seine Gründe, schließlich wünschte jedes nationalsozialistisch überzeugte Elternteil sein Kind in einer der Schulen des »Führers« zu sehen. Die Sonderschulen waren, wie Statistiken zeigen, vor allem vom Mittelstand besucht – jenem Mittelstand, der auch in der Anklamer Siedlung »Mine Hüsung« zu Hause war.

      Zwei Wege führten in solche Eliteerziehung hinein: ein eigener Antrag – was in der Praxis bedeutete: Antrag der Eltern – oder das Erwähltwerden durch eine der obersten Auslesekommissionen. Uwe Johnson verkörperte den gewünschten Typ und wurde auf die letztgenannte Weise »entdeckt«. Offiziell unterstanden diese Sonderschulen dem Reichsbildungsministerium. De facto bestimmte in ihnen freilich die SS unter Heinrich Himmler bis in die pädagogischen Details hinein. Insgesamt galt, was Horst Überhorst in Elite für die Diktatur (Düsseldorf 1969) geschrieben hat:

      Wer bei der Aufnahmeprüfung nach dem Urteil des Referenten der SS nicht rassisch hochwertig war, hatte keine Chance, die Prüfung zu bestehen, auch wenn er sich sonst gegenüber allen Prüflingen als überlegen erwies. (Überhorst, Elite, S. 82 f.)

      Dennoch meinte der SS-Gruppenführer Beyer in einem Schreiben an den »Reichsführer SS« Himmler, daß in den »Heimschulen [...] alles, jedenfalls keine Auslese« sei.

      Bei der »Auslese« aber zählte bei weitem nicht allein die »Reinrassigkeit«. Ohne erstklassige schulische Leistungen besaß kein Schüler eine Chance. Auch mußte, und das geschah keineswegs nur pro forma, die Einwilligung der Eltern in jedem Fall eingeholt werden. In einer zeitgenössischen Veröffentlichung von Fritz Kloppe aus dem Jahr 1934 mit dem Titel Nationalpolitische Erziehungsanstalten