oder andere vor ein inneres Gericht zerren, sondern schlicht das Urteilen unterlassen. Es gibt Menschen, die verurteilen dauernd die anderen. Vielleicht urteilen sie zum Teil wirklich richtig, aber dieses Urteilen ist zersetzend und nicht aufbauend. So ein Tribunal kann es auch in uns selbst geben. Darum gilt: Ein wichtiger Schritt zum Respekt gegenüber mir selbst ist, dass ich es unterlasse, über mich selbst zu urteilen. Gott soll ich das Urteil überlassen.
Auch meine eigenen Bedürfnisse darf ich respektieren. Manchen ist es peinlich, dass sie jetzt schon wieder essen oder so lange schlafen müssen, dass sie nur so kurz durchhalten, bis sie die Toilette aufsuchen müssen. Egal, welches körperliche, seelische oder geistige Bedürfnis ich in mir spüre: Ich sollte es respektieren. Respektieren ist noch nicht gleich annehmen oder gutheißen. Aber ich sollte es sehen und so sein lassen, wie es ist, und nicht daran herumzerren und mich dafür verurteilen, dass ich es habe. Ich bin ein Mensch, ich habe Grenzen und konkrete Bedürfnisse. Besonders religiöse Menschen mit einem hohen moralischen Anspruch geraten in die Gefahr, ihre eigenen Bedürfnisse zu überspringen. Ihre Bedürfnisse gehören aber zu ihnen, so wie Gott sie geschaffen hat.
Eine junge Frau, die nach schwerer Kindheit und Jugend einen ehrlichen und intensiven Weg der Heilung ging, kam eines Tages zu dem Ergebnis, dass sie viel »gesehen« werden muss, weil sie als Kind immer übersehen wurde. Nun gesteht sie sich dieses Bedürfnis zu. Sie hat mit jemandem vereinbart, dass sie schnell, auch unangekündigt, einmal bei ihm auftauchen kann, damit er sie anschaut. Einen kurzen Moment angesehen zu werden ist für sie schon heilsam. Natürlich wäre die Frau froh, wenn sie diese kurzen Momente nicht mehr brauchte, aber sie gesteht sich zu, dass sie da einen Nachholbedarf hat. Sie respektiert sich selbst in ihrer Schwäche. Das ist ein guter, heilsamer Weg.
»Respekt« hat mit Schauen und Sehen zu tun. Ich soll gut und liebevoll auf mich schauen. Ja, ich soll mich überhaupt sehen und nicht übersehen und übergehen. Wenn ich den Respekt mir selbst gegenüber üben will, dann gibt es eine einfache Möglichkeit, indem ich mich selbst anschaue:
Schaue in den Spiegel und sage zu dir:
Du bist o. k.!
Das ist eine schöne Übung. Ich schaue in den Spiegel und beurteile mich nicht. Ich sage zu dem, was ich sehe: »Es ist o. k.« Ich sage zu mir selbst: »Du bist o. k.«
3. Den anderen respektieren
Jeder ist eine ganze Welt
Das moderne Märchen »Der Kleine Prinz«, das uns Antoine de Saint-Exupéry hinterlassen hat, ist eine kleine Schule des Respekts. Auf sympathische Weise zeigt es uns, was es heißt, respektvoll miteinander umzugehen. Daran, wie Saint-Exupéry die Personen darstellt, kann man seine Welt- und Menschensicht ablesen: Jeder Mensch ist eine eigene Welt und eine besondere Gestalt.
Auf seiner Reise begegnet der Kleine Prinz zahlreichen Gestalten. So beispielsweise einem König, einem Geografen, einem Geschäftsmann und einem Säufer. Jeder von ihnen sitzt auf einem eigenen Planeten. Damit will der Dichter sagen: Eigentlich stellt jeder Mensch für sich eine eigene Welt, einen eigenen Kosmos dar. In unserer Alltagswahrnehmung meinen wir zwar, dass wir alle auf ein und demselben Planeten leben, schaut man aber genauer hin, bemerkt man, dass jeder einzelne Mensch für sich eine eigene Welt hat und seine Welt ist.
Was bedeutet das? In einer Welt ist alles enthalten, was es gibt. Es fehlt ihr nichts. Deswegen heißt sie ja »Welt« und nicht zum Beispiel »Erd-Teil«. Auch in den »Welten«, die der Kleine Prinz kennenlernt, findet sich alles, aber alles in ihnen ist in einer ganz eigenen Art und Weise enthalten. Zum Beispiel die Zeit: Jeder Planet, den der Kleine Prinz bereist, hat eine andere Größe. Die Zeitspannen zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sind jeweils verschieden lang, das heißt, die Tage sind von unterschiedlicher Dauer. Der Planet des Laternenanzünders zum Beispiel ist so klein, dass jede Minute ein neuer Tag beginnt.
Was Minute ist, was Stunde, was Tag, kann für verschiedene Menschen ganz unterschiedlich sein, auch wenn sie dieselben Uhren mit derselben mitteleuropäischen Uhrzeit tragen. Ein alter Mensch erlebt die Zeit anders als ein junger, bei ihm geht alles viel schneller, was dem jungen dann so vorkommt, als ginge beim alten Menschen alles langsamer.
Ebenso gibt es verschiedene Sprachwelten – Menschen drücken sich unterschiedlich aus. Die Sprachgrenze verläuft nicht zwischen Englisch und Deutsch oder zwischen Deutsch und Italienisch, auch nicht zwischen Bayerisch und Schwäbisch – sie verläuft zwischen Alt und Jung, zwischen Mann und Frau, ja zwischen Mensch und Mensch. Wie das? Weil jeder mit jedem Wort anderes verbindet und anderes darunter versteht. Jeder hat mit jedem Wort Erfahrungen gemacht, die nur er gemacht hat.
Der Kleine Prinz unterhält sich einmal mit dem Geschäftsmann über die Sterne. Der Geschäftsmann erklärt, dass er die Sterne besitzt. Das will dem Kleinen Prinzen nicht einleuchten. Er hat nämlich einen ganz anderen Begriff von »Besitzen«. Während für den Geschäftsmann »Besitzen« heißt, Eigentum zu haben, das ihm nützt und ihn reich und noch reicher macht, bedeutet es für den Kleinen Prinzen, etwas zu haben, für das man nützlich ist.
Was der Kleine Prinz besitzt, dafür fühlt er sich verantwortlich. Hätten wir in unserer nach Besitz strebenden Gesellschaft eine solche Vorstellung von Besitz, sähe sie wesentlich menschlicher aus. »Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse« (Saint-Exupéry, S. 95), sagt der Fuchs dem Prinzen auf seiner Reise. Wir tun gut daran, davon auszugehen, dass uns der andere zunächst nicht versteht. Und wir ihn nicht. Jeder spricht seine eigene Sprache und ich muss das Vokabular des anderen erst erlernen. Das Wörterbuch dazu ist er selbst.
In jeder Welt ist alles enthalten. Aber jedes Ding hat darin auch eine andere Bedeutung. Der Prinz erfährt das im Besonderen anhand der Sterne. Für den Geschäftsmann sind sie einfach »Dinge«, die man kauft, besitzt, verwaltet und auf der Bank hortet. Absurd, so könnte man denken, und so denkt auch der Kleine Prinz. Jedoch mit den Augen des Geschäftsmanns betrachtet, ist diese Bedeutung der Sterne nicht absurd, denn seine Welt ist eben die des Geschäftemachens; da sind die Sterne mit inbegriffen.
Auch der König kennt die Sterne. Für ihn sind sie Untertanen, die zu gehorchen haben. Das ist wieder etwas ganz anderes. Der Kleine Prinz nimmt die Sterne als Erinnerung an seine geliebte Blume, die er auf seinem Planeten zurückgelassen hat. Das ist aus der Sicht von Geschäftsmann oder König genauso absurd. Aber es ist innerhalb seiner Welt zu verstehen.
Gegen Ende seiner Reise kommt der Kleine Prinz zu dem Schluss: »Die Leute haben Sterne, aber es sind nicht die gleichen. Für die einen, die reisen, sind die Sterne Führer. Für andere sind sie nichts als kleine Lichter. Für wieder andere, die Gelehrten, sind sie Probleme. Für meinen Geschäftsmann waren sie Gold« (Saint-Exupéry, S. 118).
Die Welt eines jeden spiegelt sich in ganz unterschiedlichen Bereichen – im Großen wie im Kleinen, auch im kleinsten Detail. In jeder Kleinigkeit – und vielleicht gerade dort – drückt sich noch die ganze Welt aus. Das ist der Grund, warum eine Ehe an einer Zahnpastatube zerbrechen kann. Man fragt sich, wie so etwas Großes wie die Ehe an so einer Banalität scheitern kann. Der Grund: Weil es hier letztlich nicht um die Zahnpastatube geht, sondern darum, dass die Tube in der Welt des einen eine andere Bedeutung hat als in der Welt des anderen. In der Art, wie der eine sie fein säuberlich zusammenrollt, kommt seine ganze Lebenseinstellung zum Ausdruck, sein Verhältnis zur Ordnung, zur Sparsamkeit. Da kommt seine Erziehung zum Vorschein, seine Familie, seine Art zu leben.
Beim Kleinen Prinzen gibt es auch so eine »Zahnpastatube«: Unvermittelt muss der inzwischen etwas müde Prinz auf dem Planeten des Königs gähnen. Dieser verbietet ihm das, denn es verstoße gegen die Etikette. Das heißt, es passt eben nicht mit der Welt des Monarchen zusammen, bei dem nichts ohne Befehl getan werden darf. Dass der Prinz daraufhin auf Befehl gähnen soll, beweist, dass nicht das Gähnen das Problem ist (genauso wenig wie die Zahnpastatube). Das Problem ist, dass sich hier zwei Welten begegnen, und zwar im Detail. Wegen solcher Details sind schon Kriege entstanden. Wer seine Ehe aber wegen einer Zahnpastatube – verständlicherweise und zu Recht – noch nicht aufgeben will, sollte die Welt des anderen unvoreingenommen kennenlernen und sie respektieren.
Wenn man Saint-Exupéry ernst nimmt, bedeutet seine Sicht der unterschiedlichen (Lebens-)Welten streng genommen,