Franz Taut

Roter Stern am Schwarzen Meer


Скачать книгу

weiß es genauso wenig wie Sie«, entgegnete ich. »Kürzlich war der Chef des Stabes vom Jägerkorps hier vorn bei mir. Ein ehrgeiziger, noch junger Generalstabsoberst – Blutordensträger, aber trotzdem kein sturer Parteimann. Er schaute durchs Scherenfernrohr hinaus ins Feindgebiet. Das einzige Sehenswerte, mit dem ich ihm aufwarten konnte, war eine Kolonne deutscher Kriegsgefangener, die sozusagen vor unseren Augen drüben, nordostwärts Krymskaja, für den Iwan eine Straße bauen – eine Panzerstraße, wie mir scheint.«

      Leutnant Lemke knurrte einen Fluch. »Verdammt weit haben wir’s gebracht. Was meinte denn der Herr Oberst? Hat er sich nicht überlegt, was man für die armen Teufel tun könnte?«

      »Er hat zähneknirschend seine Machtlosigkeit verwünscht. Gut gesagt, was?«

      Lemke lachte hart auf. »Sehen Sie, da liegt der Hund begraben. Er möchte gern, aber er kann nicht. Ich bin im Übrigen kein Defätist. Wenn es vorwärtsgeht, bin ich der Erste an der Spritze. Aber ich sehe keine allzu großen Möglichkeiten mehr. Ich glaube, wir können auf die Dauer froh sein, wenn es uns gelingt, den Frontbogen von Noworossijsk bis zum Asowschen Meer zu halten. Wie sieht’s denn augenblicklich aus?«

      »Mehr als mulmig«, sagte ich. »Der Feind greift jetzt fast täglich an. Was hier am Kubanbrückenkopf in unseren Kampfgräben liegt, sind lauter Experten, lauter Spezialisten für die Nahverteidigung. Der Einzelkämpfer hat hier das Licht der Welt erblickt. Die Kompanie, die Sie übernehmen, ist ein wilder Haufen. Kaum einer ist darunter, der sich nicht schon von einem T 34 oder einem der neuen Shermans hat überrollen lassen. Klänge es nicht allzu makaber, würde ich sagen, mancher macht sich einen Spaß daraus, so einen Russenpanzer über sich wegfahren zu lassen und dann wie Phönix aus der Asche mit Handgranaten oder MG aufzustehen, wenn die lehmbraune Welle nachkommt. Man könnte mit einer großen Kiste voller Eiserner Kreuze durch die Stellung gehen und jedem eines anhängen. Hier ist ja schon manchmal der Weg zur Latrine eine Ritterkreuzangelegenheit. Sie werden es erleben. Man sitzt auf dem Balken, und ringsherum kracht es, dass die Fetzen fliegen.«

      »Wirklich ein freundlicher Ort«, sagte Lemke ungerührt.

      Im Bunkereingang erschien der Melder, der den neuen Kompanieführer vom Kompanietross heraufbegleitet hatte. Er baute sein Männchen und brachte dann eine Krankentrage als Schlafplatz und das Gepäck des Leutnants, einen Rucksack mit aufgebundenem Stahlhelm, einen grauen Wäschebeutel und einen nagelneuen Schlafsack aus der Heereskleiderkammer. Dazu die Maschinenpistole, die der Leutnant beim Tross empfangen hatte. Lemke nahm den Wäschebeutel auf die Knie und kramte darin herum. Er förderte eine Kognakflasche zutage, eine Hunderterpackung Krim-Zigaretten und ein in Wachstuch eingeschlagenes Päckchen. »Jetzt wollen wir zum Einstand einen trinken«, sagte er. »Oder sind Sie Abstinenzler, Herr Emser?«

      »Bewahre«, sagte ich. »Bin jederzeit dabei, vorausgesetzt, dass uns der Iwan in Ruhe lässt.«

      Leutnant Lemke legte den Wachstuchpacken auf den Tisch. »Wissen Sie, was da drin ist? Aufzeichnungen. Im Lazarett habe ich angefangen, Buch zu führen – das persönliche Kriegstagebuch des Leutnants Lemke. Cherson war für meine Studien ein äußerst interessanter Platz. Es gab dort ein paar Goldfasane, die alle im Osten dick und fett geworden sind, dunkelbraune Herren von der Zentraleinkaufsgenossenschaft: Ost, ZO genannt, Landwirtschaftsführer, die in Butter, Eiern und Honig schwelgten, und es gab ein Wiedersehen mit einem ›Ausflieger‹, der in Gumrak, dem letzten Flugplatz von Stalingrad, in die gleiche Maschine wie ich geriet. Der Unterschied war nur, dass wir hineingehoben wurden, während er mit einem Pflästerchen am Ohr auf seinen beiden Beinen die Treppe hochkam. Sie werden es nicht glauben, Herr Emser: ein ausgewachsener General. Natürlich hat er mich nicht wiedererkannt. Er saß noch in Cherson, als ich abfuhr, und wartet dort wohl auf ein neues Kommando. Vielleicht hofft er ja auch, dass der Krieg aus ist, bis sich etwas Neues für ihn findet. Die Verluste unter der Generalität sind ja bei Weitem nicht so hoch wie die unter den Landsern, schätze ich. Ich möchte übrigens seinen Namen nicht nennen. Vielleicht sollte man auf keinen, der Stalingrad mitgemacht hat, einen Stein werfen. Die Panik und der Schock waren unbeschreiblich! Da konnte man schon die Nerven und das Rückgrat verlieren. Aber es hat auch solche gegeben, die ihre Haltung bewahrt haben – bis zum Untergang. Ja, sehen Sie, und auf diesen losen Blättern hier habe ich meine Beobachtungen niedergelegt. Vielleicht könnte später einmal ein Erinnerungsbuch draus werden. Wer weiß?«

      Leutnant Lemke entkorkte die Kognakflasche, und ich holte von dem Wandbrett über meiner Schlafpritsche zwei von den Gläsern, die ich sorgsam gehütet hatte, als ich noch Regimentsadjutant gewesen war. Es waren die beiden Letzten. Der Kognak stammte aus Frankreich, Marke »Hennessy«, in jeder besseren Wehrmachtsmarketenderei des Hinterlandes zu finden.

      Wir stießen miteinander an. »Auf den Kubanbrückenkopf«, sagte Lemke, bevor er trank, »auf dass er wachse und gedeihe!«

      Vom Nachbarbunker, in dem der Kompanietrupp untergebracht war, kam Feldwebel Suhrmann. Leutnant Lemke füllte sein Glas erneut und reichte es dem Kompanietruppführer. Doch ehe der Feldwebel das Glas ansetzte, meldete er mit ernster Miene, die Gefechtsvorposten hätten wieder einmal verdächtige Truppenbewegung auf der Straße Krymskaja-Kiewskoje beobachtet. Ich stand auf, ging zum Kompanietrupp und läutete den Artilleriebeobachter an, einen frisch beförderten Wachtmeister, der seit zwei Wochen auf unserer Höhe saß.

      »Weiß schon, Herr Oberleutnant«, sagte der vorgeschobene Beobachter am anderen Ende der Leitung. »Leider nichts zu machen. Die Muni-Zuteilung für Störungsfeuer ist bereits verschossen. Fragen Sie doch mal beim Batteriechef an. Vielleicht gibt er im Vorgriff auf morgen ein paar Schuss frei.«

      »Besten Dank«, sagte ich. »Und wenn dann morgen früh die Russen angreifen, hat das Sperrfeuer so viele Lücken, dass man drüber lachen kann.«

      »Zum Kotzen, Herr Oberleutnant«, gab der Wachtmeister zu. »Aber Munition für die Ari ist nun mal Mangelware.«

      Ich hängte ein, läutete ab und ging in meinen Gefechtsstand zurück. Der Feldwebel saß bei Leutnant Lemke am Tisch. Ich setzte mich zu den beiden. Mein Glas war wieder voll.

      »Überall ist das Hemd zu kurz«, sagte ich.

      »Wie immer«, meinte Feldwebel Suhrmann und lachte. Er war ein Kerl wie ein Baum, hünenhaft und unerschütterlich. Trotz seiner Länge war er noch niemals verwundet worden, obwohl er seit Beginn des Krieges am Feind war.

      Lemke und Suhrmann tranken abwechselnd. Der Leutnant mit dem zerstörten Gesicht schien unendliche Mengen vertragen zu können. Suhrmann dagegen wurde sehr rasch blau. Ich bat ihn, sich etwas zurückzuhalten. Mit Betrunkenen ist schlecht Krieg zu führen, und alles deutete darauf hin, dass die Russen zu meinem Abschied noch einmal auf die Pauke schlagen würden.

      Suhrmann stand sofort auf. »Sie haben recht, Herr Oberleutnant. Zu tief ins Glas geschaut, kostet mitunter die Haut. Lieber als einen zu heben, bleib ich am Leben.«

      Er sprach, wenn er in Stimmung war, gern in Versen, die freilich zuweilen beachtlich unanständige Wendungen brachten.

      Er verließ uns, und Leutnant Lemke drückte den Korken in den Flaschenhals. »Wollen wir nicht jetzt gleich mal einen Gang durch die Stellung machen?«, schlug er vor. »Sie können dann, wenn’s dunkel wird, Ihr Päckchen nehmen und gehen.«

      »Sehr freundlich gemeint«, versetzte ich, »aber ich bleibe doch lieber bis morgen und zeige Ihnen, wie man hier den Laden schmeißt, wenn die Russen kommen.«

      Wie jeden Nachmittag gegen fünf Uhr begann auf russischer Seite ein schweres Geschütz zu feuern. Die Landser nannten es aus unerfindlichen Gründen »Frau Stalin«. Die Einschläge hallten, als ob ein gigantischer Vorschlaghammer auf einen Riesenamboss niederfällt. Sie lagen – wie stets – weiter rückwärts auf der Nachschubstraße, auf der allerdings am hellen Tag nur wenig Verkehr war. Die Straße, die man nach dem Kommandierenden General des Jäger-Korps de Angelis benannt hatte, war deutsche Wertarbeit. Baupioniere hatten sie geschaffen, nachdem die Stellungen von Krymskaja auf den westlich davon ansteigenden Höhenzug zurückgenommen worden waren. Es war eine Straße mit festem Unterbau, dem auch keine Regenperiode etwas anhaben konnte. An Regen allerdings herrschte hier ebensolcher Mangel wie an schwerer Munition. Seit vielen