Haben Sie was dagegen, wenn ich noch bis morgen früh bleibe, Herr Stapf?«
»Augenblick mal«, sagte der Adjutant, dann meldete er sich wieder. »Der Herr Major ist einverstanden. Wird zwar vermutlich Stunk geben, aber er teilt Ihre Befürchtung, Herr Emser. Ihr Nachbar zur Linken hat auf der Straße nach Kiewskoje Marschkolonnen und Fahrzeugverkehr beobachtet. Die starke Staubentwicklung lässt allerdings keine Einzelheiten erkennen. Da müsste man ein paar Lagen hinüberpfeffern.«
»Müsste man«, bestätigte ich. »Aber ist nun mal nicht, Herr Stapf. Die Ari könnte sich als Sparverein eintragen lassen.«
»Halten Sie uns auf dem Laufenden, Herr Emser«, sagte Leutnant Stapf, ohne auf meine bissige Bemerkung einzugehen. »Wenn erforderlich, durch Funk. Wir gehen für alle Fälle ab sofort auf Empfang. Ende.«
Ich nahm den Stahlhelm ab und betrat den kleinen Bunker, in dem ich lange Zeit zu Hause gewesen war. Leutnant Lemke griff zur Kognakflasche und füllte die Gläser. »Vorzüglicher Anschauungsunterricht«, sagte er. »Hier hat man sozusagen ständig vor Augen, was einem blüht, wenn man sich vom Iwan schnappen lässt. Vielleicht sind die armen Teufel Überlebende von Stalingrad.« Er hob gedankenvoll sein Glas.
»Warum sind Sie eigentlich wieder herausgekommen an die Front?«, fragte ich. »Sie hätten es doch nicht mehr nötig gehabt.«
Er blickte an mir vorbei zum Bunkereingang. »Ja – warum? Denken Sie einmal ein bisschen nach, Herr Emser. Schauen Sie mich doch an! Hätten Sie Lust, mit einem solchen Gesicht nach Hause zu gehen? Ich bin ja – Gott sei Dank – nicht verheiratet. Meinem Mädel habe ich was vorgemacht. Hat keinen Zweck mehr mit uns und so. War sicher ein böser Schlag für sie. Aber was hätte sie erst empfunden, wenn sie mich so gesehen hätte? Mitleid – nein, Mitleid könnte ich nicht ertragen.« Er leerte sein Glas mit einem Schluck, wie um einen bitteren Geschmack hinunterzuspülen. »Ave Adolf«, sagte er ironisch, »morituri te salutant.«
Ich hatte selten einen Offizier getroffen, der mit solchem Freimut lästerte. Auf einmal begann er zu lachen. »Alles Quatsch. Schließlich leben wir ja noch, nicht wahr? Versuchen wir also, das Beste draus zu machen.«
Ich ging hinüber zum Kompanietrupp, um den letzten Schreibkram zu erledigen. Seit September 42 hatte ich die Kompanie geführt, zuerst in den Waldbergen des pontischen Kaukasus, dann auf dem Rückzug durch die teils verschlammte, teils gefrorene Steppe. Die Kompanie hatte ihr Gesicht verändert in dieser Zeit. Viele Gräber hatten wir zurückgelassen auf unserem Weg. Zahlreiche Verwundete waren abtransportiert worden und nie wiedergekehrt. Aber ein großer Teil vom alten Stamm war noch vorhanden. Wir hatten miteinander Weihnachten und Neujahr gefeiert. Die Not hatte uns aneinandergekettet, und nun sollte ich davongehen, während sie alle zurückblieben in der Hauptkampflinie.
Nachdem ich die letzte Unterschrift als Kompanieführer geleistet hatte, fragte Feldwebel Suhrmann: »Soll Sie jemand von uns bis zum Tross begleiten, Herr Oberleutnant?«
»Vorerst bin ich ja noch hier«, entgegnete ich. »Und wenn ich gehe – meinen Rucksack kann ich gut allein tragen.«
»Wollen Sie denn noch bleiben?«, fragte Suhrmann erstaunt.
»Ja«, sagte ich, »wenigstens über Nacht. Sozusagen als Schutzengel.«
Der Feldwebel schüttelte den Kopf. »Das müsste mir mal passieren! Wenn ich mal versetzt werden sollte, dann nichts wie ab durch die Mitte.« Doch nachdenklich fügte er hinzu: »Für die Männer ist es sicher ’ne Beruhigung, Herr Oberleutnant. Nichts gegen Ihren Nachfolger. Er sieht bestimmt nicht so aus, als ob er eine Niete wäre. Aber die Leute kennen Sie schon so lange. Wir haben so viel miteinander durchgestanden. Glauben Sie, dass der Iwan kommt?«
»Ja«, sagte ich, »es ist wohl anzunehmen.«
Bewegung auf der Straße bedeutete Bereitstellung von Angriffstruppen. Günstigsten Falles betraf es einen benachbarten Abschnitt. Doch auch, wenn es so käme, müsste ich zur Stelle sein, um Leutnant Lemke die nötigen Tips zu geben. Hatte er das erst einmal hinter sich, war alles einfacher für ihn.
Als ich in meinen Bunker kam, lag Leutnant Lemke in seinem Schlafsack auf der Krankentrage. Er schlief fest. Der Inhalt der Kognakflasche hatte sich beträchtlich verringert. Wenn der neue Kompanieführer, der so unbekümmert schlief, als befände er sich irgendwo in Sicherheit und nicht in einem vom Krieg überzogenen, von Granaten zerwühlten Land, von der langen Reise übermüdet war, bestand für mich umso mehr Anlass, auf dem Posten zu bleiben und die Augen offen zu halten. Als ich die Kompanie übernommen hatte, damals, 42, im September, war alles anders gewesen. Mein Vorgänger war gefallen. Oberfeldwebel Schlemm, der dann später während eines Nachtgefechts in den Waldbergen spurlos verschwand, hatte die Kompanie drei Wochen lang geführt und war erleichtert gewesen, die Verantwortung loszuwerden. Ich fragte mich, ob es wirklich die Sorge war, die mich in der Stellung festhielt, oder ob ich mich so sehr an meinen Haufen gewöhnt hatte, dass es mir nun schwerfiel, ihn von einer Stunde zur anderen zu verlassen. Wäre es übrigens nicht diese Kompanie gewesen – wäre ich nach meiner Verwundung bei der Mai-Offensive des Jahres 1942 am Donez zu meinem alten Regiment zurückgeschickt worden, würde vermutlich die letzte Station meiner militärischen Laufbahn Stalingrad geheißen haben. Denn dort war mein altes Regiment mit allen geblieben. Es berührte mich seltsam, dass Leutnant Lemke, mein Nachfolger, ausgerechnet von dort herkam – vom Schlachtfeld an der Wolga, wenn auch auf dem Umweg über das Lazarett und die Führerreserve der Heeresgruppe.
Ein halbes Jahr war seit dem Abschluss der düsteren Tragödie von Stalingrad vergangen, aber noch immer spielte jenes unbegreifliche Geschehen eine beträchtliche Rolle in unseren Gesprächen und Gedanken. Es war, als spürten wir, dass es die große Wende gewesen war, dass es seither trotz scheinbarer örtlicher Erfolge steil abwärtsging mit uns.
Ich war gerade dabei, meinen Rucksack zu packen – für alle Fälle, wie ich mir sagte –, als plötzlich Feldwebel Suhrmanns athletische Gestalt den Bunkereingang verdunkelte. Sein Gesichtsausdruck war ernst.
»Sie haben Geschütze aufgefahren«, stieß er aufgeregt hervor. »Drüben an der neuen Straße, wo die Gefangenen schuften – fünf oder sechs Batterien, dazu Stalinorgeln –, sie stehen offen im Gelände.«
Er drehte sich um, und ich griff zu Stahlhelm und MP und folgte ihm durch den Graben. Der Posten am Scherenfernrohr trat zur Seite. Über der Baustelle draußen im Ödland lag das goldene Licht der Abendsonne. Die feldgrauen Gestalten arbeiteten mit der gleichen Betriebsamkeit wie jeden Tag zu jeder Stunde zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Hinter dem wie mit der Schnur gezogenen Band der neuen Straße waren in großer Zahl Geschütze aufgereiht, langrohrige Kanonen, gedrungene Haubitzen und die Selbstfahrlafetten der Stalinorgeln. Die Bedeutung dieser Ansammlung schwerer Waffen war leicht zu erraten.
»Verfluchte Hunde«, schnaubte Suhrmann, der hinter mir stand. Er hatte recht. Die offene Auffahrt der Artillerie drüben beim Feind war eine Teufelei, wie sie schlimmer nicht ausgedacht werden konnte. Der Feind benützte die Gefangenen als Deckung und konnte ungestört feuern, ohne einen Gegenschlag unserer Batterien befürchten zu müssen.
Ich wies Suhrmann an, die Kompanie in Alarmbereitschaft zu versetzen, kehrte eilig zum Gefechtsstand zurück und läutete den Artilleriebeobachter an.
»Der neueste Trick«, sagte der Wachtmeister, der seinen Beobachtungsstand auf einer kleinen Kuppe eingerichtet hatte, am anderen Ende der Leitung. »Wenn man da hineinleuchten könnte. Nichts zu machen, Herr Oberleutnant. Wird bald Zunder geben, aber wir können unsere eigenen Leute nicht zusammenschießen.«
Ich fragte ihn, ob er seine Batterie verständigt habe. »Die ganze Abteilung ist feuerbereit«, antwortete er. »Ich brauche nur auf den Knopf zu drücken, dann wird Sperrfeuer ausgelöst. Ob wir den Iwan damit aufhalten, wenn er kommt, ist eine andere Frage. Munition, Herr Oberleutnant – das ist das, was uns fehlt.«
Seitdem wir den Kubanbrückenkopf verteidigten, litt unsere Artillerie unter Munitionsmangel. Jede Granate und jede Kartusche mussten über die Straße von Kertsch herangeführt werden, und nicht alle Fähren und Prähme, die von Kertsch ausliefen, kamen an der Küste von Taman an.
Ich beendete das