auf Malta stationieren, während britische Fregatten ins Marmarameer einliefen. Ein Krieg mit Russland lag nun in Reichweite.
Auch Österreich-Ungarn betrachtete mit Sorge den wachsenden russischen Einfluss an seiner südlichen Flanke. Dem Vorschlag des österreich-ungarischen Außenministers Gyula Andrássy (1823–1890) folgend, wurde ein Kongress einberufen. Außenminister Fürst Alexander Michailowitsch Gortschakow schlug Berlin als Tagungsort vor.
Als einzige Großmacht verfolgte das Deutsche Reich keine eigenen Interessen auf dem Balkan. Reichskanzler Otto von Bismarck betonte am 5. Dezember 1876 vor dem Deutschen Reichstag, dass er auf dem ganzen Balkan für Deutschland kein Interesse sehe, »welches auch nur … die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre«51. Im Februar 1878 erklärte er zudem, er wolle nicht der »Schiedsrichter« in der orientalischen Frage sein, sei aber bereit, die Rolle eines »ehrlichen Maklers, der das Geschäft wirklich zu Stande bringen will«, zu spielen.52 Vorab sollten sich die drei streitenden Parteien grundsätzlich einigen. Unter dieser Voraussetzung erklärte sich Bismarck bereit, den Friedenskongress zu leiten. Die Briten stimmten dem Einigungsvorschlag gerne zu, weil sie glaubten, in einzelnen bilateralen Verhandlungen ihre Interessen besser durchsetzen zu können als in der multilateralen Kongressdiplomatie – ein Verfahren, das die USA bis heute perfektioniert haben. Sie schlossen daher drei getrennte Vorabkommen ab.53
Zwischen dem 13. Juni und dem 13. Juli 1878 richtete sich das Weltinteresse auf Berlin, wo die Vertreter Englands, Russlands, Österreichs, Italiens und der Türkei nach einer einvernehmlichen Lösung suchten.54 Zur Freude der Engländer und zum großen Missfallen der Russen wurde dank des »ehrlichen Maklers« Bismarck der der für Russland so günstige »Siegfrieden« von San Stefano revidiert und damit das russische Übergewicht auf dem Balkan beseitigt. Das Fürstentum Bulgarien blieb formal autonom, verlor aber die Provinz Rumelien sowie das osmanische Makedonien und war der Türkei tributpflichtig. Dagegen wurden Rumänien, Serbien und Montenegro unabhängig. Die Türkei erhielt einen großen Teil ihrer europäischen Provinzen zurück, Griechenland einen Teil von Epirus sowie Thessalien und England Zypern. Bosnien und Herzegowina verblieben formell beim Osmanischen Reich, wurden allerdings unter österreichisch-ungarische Verwaltung gestellt, die das Finanzministerium ausübte – eine vergleichbare Regelung wurde 1999 nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien mit dem Kosovo getroffen.
Von den glanzvollen Eroberungen der Russen blieb nur Bessarabien bis zum Donaudelta übrig. Während der englische Premier Disraeli Bismarck Sympathien entgegenbrachte – die Illustrated London News sprach von »Dizzy« und »Bizzy«55 –, war das Verhältnis Bismarcks zum russischen Staatskanzler und Außenminister Gortschakow sowie zur russischen Öffentlichkeit stark abgekühlt. Das sollte sich auf die künftigen deutsch-russischen Beziehungen nachhaltig auswirken.
Uneingeschränkt zufrieden mit den Ergebnissen des Berliner Kongresses war die britische Regierung, denn man hatte Russland erfolgreich aus dem Mittelmeer ferngehalten und zusätzlich Zypern als Flottenbasis gewonnen. Dafür wurde Außenminister Lord Salisbury mit dem Hosenbandorden ausgezeichnet und Bismarck vom Premierminister Disraeli gelobt.
Vom serbischen Königsmord in die Bosnienkrise
Heute sind die Ergebnisse der europäischen Neuordnung von 1878 bei Historikern umstritten, weil sie mit einem Tunnelblick auf kurzfristige imperialistische Vorteile ausgehandelt worden waren, ohne die nationalen Rechte der ansässigen Bevölkerung zu beachten.56 Der Berliner Vertrag habe nur eine instabile Wiederherstellung der osmanischen Herrschaft über die Balkanvölker gebracht, das kurze Verfallsdatum sei für jeden ersichtlich.57 Zwar erholten sich die Beziehungen der europäischen Großmächte kurzfristig, doch die Verhältnisse auf dem Balkan blieben krisenhaft.58 Nach Meinung des britischen Historikers A. J. P. Taylor hätte der Friede von San Stefano Südosteuropa größere Stabilität gebracht.59
Österreich-Ungarns administrative Macht über Bosnien trübte die Stimmung in Serbien. Die Außenpolitik der österreichfreundlichen Obrenović-Dynastie blieb davon unberührt, was bei serbischen Nationalisten und Jungrevolutionären wie Nikola Pašić (1845–1926) den Widerstand gegen König Milan hervorrief. Dank eines Staatsstipendiums durfte Pašić am Zürcher Polytechnikum studieren. Dort geriet er in den anarchistisch-antidynastischen Kreis Michail Alexandrowitsch Bakunins (1814–1876), der in ihm den geborenen Verschwörer sah.60 Als Abgeordneter in die Skupschina, das serbische Parlament, gewählt, gründete Pašić die linksdemokratische, nationalistische »Radikale Volkspartei«. Im Kampf gegen König Milan erhielt er Unterstützung durch Russland. Verwickelt in einen Aufstand gegen das Königshaus, wurde er 1883 in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Doch als Milan 1889 zugunsten seines Sohnes Alexander auf den Thron verzichtete, konnte Pašić in die Heimat und sogar ins Parlament zurückkehren. Da Alexander I. den Kampf seines Vaters gegen die »Radikalen« weiterführte, reifte in Pašić wohl der Entschluss, ein von konspirativen Politikern und Militärs vorbereitetes Mordkomplott zu unterstützen.
Prinz Peter Karadordevic, der im Genfer Exil über den geplanten Staatsstreich informiert worden war, gab die unmissverständliche Erklärung ab, dass er den serbischen Thron nicht besteigen werde, solange auch nur ein Mitglied der Obrenović-Dynastie noch am Leben sei.61 So beschränkte sich die Bluttat der Verschwörer am 11. Juni 1903 nicht auf die Hinrichtung des Königspaares – samt Hinauswerfen der Leichname aus den Fenstern des Schlafgemachs –, sondern umfasste u. a. auch die Ermordung des Ministerpräsidenten, des Kriegssowie des Innenministers und der beiden Brüder der Königin – insgesamt waren es über 50 Opfer.
Innenpolitisch kam es nun vor allem darauf an, etwaige Unruhen oder gar einen Bürgerkrieg zu verhindern. Für eine fremde Einmischung sollte kein Vorwand geliefert werden. Die Ausführung der Tat selbst war generalstabsmäßig bis in die kleinste Einzelheit von Offizieren und Politikern geplant worden, die nicht nur Russland, sondern auch England und Frankreich nahe standen. Besonders verdient gemacht hatte sich Hauptmann Dragutin Dimitrijević (1876–1917), der stämmigen Figur und seines Stiernackens wegen in Anspielung auf den ägyptischen Stiergott »Apis« genannt. Das Parlament sprach ihm, der in jener Nacht durch mehrere Brustschüsse schwer verwundet wurde und zeitlebens drei Kugeln im Körper mitschleppen musste, den Dank des Volkes aus, zollte ihm Anerkennung und nannte ihn den »Retter des Vaterlandes«.62 Der charismatische Hauptmann zog eine Gruppe von jungen Offizieren in seinen Bann, er sollte die politische Entwicklung Serbiens mitprägen.
Linksreaktionärer Nationalist und durchtriebener Opportunist: Nikola Pašić (links im Bild) während des ersten Balkankriegs 1912 mit Prinz Alexis Karad-ord-ević, der 1903 als Thronfolger vorgesehen war (© Abb. 5)
In der Hoffnung, die gutnachbarlichen Beziehungen zu Serbien fortsetzen zu können, erkannte Österreich-Ungarn als erste Großmacht die Regentschaft Peters I. an, Kaiser Franz Joseph schickte ihm ein ungewöhnlich freundschaftliches Telegramm. Dem Beispiel folgten aus unterschiedlich gelagerten Opportunitätsgründen die anderen Großmächte: Russland als Rivale Österreichs wollte weiterhin Einfluss auf Serbien ausüben, während Frankreich automatisch an der Seite Russlands zu finden war. Der italienische Hof wiederum pflegte verwandtschaftliche Beziehungen zu König Peter. Deutschland ging es allein um die wirtschaftlichen Beziehungen zu Serbien, nichtsdestotrotz verurteilte Wilhelm II. die Umstände des Umsturzes aufs Schärfste. Als einzige europäische Großmacht versagte die englische Regierung die Anerkennung – König Edward kannte die Vorgeschichte und somit die zwielichtige Rolle König Peters genau – und berief ihren Gesandten aus Belgrad ab.
Es verwundert nicht, dass der serbische Königsmord für den neuen Regenten und auch für die Regierung von 1903 bis 1914 sowohl innen- als auch außenpolitisch eine ständige Belastung bedeutete.63 Davon lenkte der außenpolitische Umschwung sowie die Wiedergeburt der großserbischen Bewegung ab, geführt von ganz neuen, bisher unbekannten jungen Kräften. Hoffnungsvoll richteten alle ihren Blick über die türkische Grenze und über die Drina nach Bosnien, und viele Offiziere traten an die Spitze sogenannter Komitatschibanden, ein Zusammenschluss von Studenten,