Henry van de Velde

Meine Jahre in Weimar


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kommenden Abend, das andere aus Antwerpen mit der Nachricht, daß mein Vater gestorben sei und daß das Begräbnis am übernächsten Tag stattfinde.

      In die Erinnerungen an diesen für mich schicksalsmäßig so wichtigen Abend des 21. Dezember 1901 sind die Gedanken an meinen toten Vater eingewoben. Noch heute empfinde ich tiefen Schmerz, daß er nicht mehr die Entwicklung meiner Laufbahn und die offizielle Bestätigung meiner Mission erfahren durfte. Es hätte gewiß seinen Kummer über den tragischen Tod von drei seiner fünf Söhne gemildert. Seit dem Tod meiner Mutter fühlte er sich einsam, wenn auch meine Schwester Jeanne und ihr Mann, der meinem Vater herzlich verbunden war, mit liebevoller Aufmerksamkeit sich um ihn kümmerten. Wie gerne hätten Maria, die meinen Vater sehr liebte, und ich zu seiner Freude beigetragen!

      Mein Bericht über diese Periode wird eines Tages mit Hilfe von Harrys Aufzeichnungen wesentlich ergänzt werden können. Wir hatten uns eine hoffnungslose Aufgabe gestellt, als wir versuchten, den Großherzog, einen von Natur aus mittelmäßigen Menschen, der einen nahezu rohen Charakter besaß, trotz allem zu einer historischen Gestalt zu machen. Heute bin ich überzeugt, daß es bei vielen historischen Gestalten nicht anders steht; sie gehen gegen besseres Wissen und Gewissen ins Buch der Geschichte ein. In Weimar begann ein Drama, über das sich wenige Zeugen dieser Epoche bewußt wurden und dessen Unvermeidlichkeit erst dann in klarem Licht erschien, als alle Illusionen geschwunden waren.

      Harry Kesslers fragmentarische Aufzeichnungen, die mir seine Schwester, Wilma de Brion, zugänglich gemacht hat, sind so anschaulich, daß ich es mir nicht versagen kann, sie meinen Lesern mitzuteilen:

      »21. Dezember 1901:

      Früh nach Weimar gefahren. Dort van de Velde. Mit ihm Besuch bei Frau Förster-Nietzsche, bei Exzellenz Rothe, von Palézieux etc. Rothe schlug vor, der Großherzog sollte van de Velde mit dem ganz allgemein gehaltenen Auftrag berufen, das Gewerbe und Kunstgewerbe im Lande zu heben und zu beraten. Gehalt 6000 Mark. Von einem Darlehen des Großherzogs zum Bau eines Institutes will er nichts wissen, um die Sache nicht zu komplizieren! Van de Velde schlug vor, er wolle das Geld selber aufbringen, wenn ihm in Weimar wenigstens ein Terrain unentgeltlich zugesichert werde. Im übrigen machte Rothe noch alles abhängig von der noch nicht erfolgten Entschließung des Großherzogs. Um sieben Uhr Diner beim Großherzog. Diesmal in den Prunkräumen der ersten Etage.

      Dort die Erbgroßherzogin, die beiden Gräfinnen Bodmer, von Palézieux, Rothe, von Egloffstein, von Schlieffen, Graf Otto Werthern, ein Oberleutnant Müller aus Südafrika, ein Hauptmann Fliesbert aus China und einige andere. Ich saß zwischen Müller und Egloffstein; rechts neben Müller der Großherzog, van de Velde neben der Erbgroßherzogin. Nach Tisch, beim ›Cercle‹ kam die Erbgroßherzogin gleich auf mich zu und sagte mir, ihr Tischnachbar wäre ihr sehr angenehm gewesen, ›il cause‹ und wäre sehr amüsant. Die Erbgroßherzogin ging bald zurück, und wir gingen hinauf in die Zimmer des Großherzogs. Dieser sprach zuerst fast eine Stunde mit van de Velde allein in einer Ecke. Dann kam er bald zu mir und fragte mich, wie die Sache mit Krefeld (Direktor Deneken) sei. Ich sagte ihm, was ich wußte. Darauf er ganz betroffen: ›Ja, was wird dann aus uns in Weimar?‹ Ich erwiderte: ›Das haben Königliche Hoheit ja ganz in der Hand. Van de Velde hält sich an Weimar vorläufig noch gebunden. Königliche Hoheit brauchen ihm nur den bestimmten Vorschlag unter den heute bei Minister Rothe besprochenen Bedingungen zu machen und van de Velde wird sofort ja sagen.‹

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      Schloß Belvedere, Weimar

      Der Großherzog meinte, das würde er gern tun. Darauf ich: ›Soll ich van de Velde vielleicht dazu herholen?‹ ›Ja, bitte!‹ Ich ging darauf auf van de Velde zu, der im Gespräch war mit jemandem, den Rücken gekehrt, faßte ihn an und drehte ihn um, dem Großherzog zu. Der Großherzog streckte ihm unter verlegenen Worten die Hand entgegen, und die Sache war gemacht. Nachher, bis halb ein Uhr mit Werthern und van de Velde im Hotel ›Erbprinz‹ gesessen.«

      Harry Kessler notiert in seinem Journal unter dem Datum des folgenden Tages einen Abschiedsbesuch bei Frau Förster-Nietzsche, die wir als erste von dem Ereignis in Kenntnis setzten, und unsere Aufwartung bei der Großherzoginmutter in Schloß Belvedere.

      Eine Allee von mächtigen, mehr als hundertjährigen Kastanienbäumen verbindet Weimar mit dem Schloß. Auf halbem Weg öffnet sich der Blick auf die weite hügelige Ebene; hier beginnt der Anstieg zum Plateau, auf dem das Schloß steht. Oberstallmeister Graf von Finckenstein kutschierte persönlich. Schon bald sah man wie durch einen dichten Schleier, der vom Geäst der mit ein wenig Schnee bedeckten Bäume gebildet wurde, die kadmiumgelbe Fassade des in italienischem Barock erbauten Schlosses. Im weiten Park befindet sich das Gartentheater, für das Goethe einige Stücke geschrieben hat, die er selbst dort zur Aufführung brachte. Hier fühlt man sich dem ruhmreichen historischen Weimar näher als im Stadtpalais. Die Großherzoginmutter empfing uns mit betonter Herzlichkeit. Beim Tee erzählte sie uns ungezwungen von ihrem Leben in den Frühlings- und Sommermonaten. Dieses Jahr hatte sich ihre Übersiedlung nach ihrem Winterquartier Rom verzögert, von wo aus sie verhältnismäßig bald zurückzukehren gedachte. Sie erklärte sich mit Vergnügen bereit, vom Frühling an zu meiner Verfügung zu sein, um möglichst rasch die Verbindungen zu den Kunsthandwerkern und den Vertretern der Kunstindustrie herzustellen.

      Sie hätte uns noch lange bei sich behalten, wenn ich nicht dem Grafen von Finckenstein und Harry Kessler zugeflüstert hätte, daß ich unbedingt in einer halben Stunde am Bahnhof sein müsse. Dieser plötzliche Aufbruch war ein Verstoß gegen die Etikette, die vorschreibt, daß die Fürstin das Zeichen zur Beendigung eines Gespräches oder Besuches gibt. Ich hatte niemand erzählt, welches tragische Zusammentreffen mich zwang, den Abendschnellzug Berlin-Frankfurt zu nehmen, um rechtzeitig in Antwerpen anzukommen. Kessler instruierte den Oberstallmeister, und ich verabschiedete mich von meiner Gastgeberin, die über mein vorschriftswidriges Verhalten verstimmt war. Mir war die grundlose und grobe Kränkung der Großherzoginmutter, die sich mir gegenüber so entgegenkommend und liebenswürdig gezeigt hatte, unendlich peinlich.

      Graf Finckenstein übernahm es, mich noch am gleichen Abend bei der Großherzoginmutter zu entschuldigen. Für mich war es eine harte Prüfung, den Schmerz über den Tod meines Vaters während der zwei Tage zu unterdrücken, die mich an Weimar und an einen Fürsten binden sollten, über dessen Charakter niemand etwas ahnte. Wenn ich damals schon die Prinzessin Reuß, die Schwester des Vaters Wilhelm Ernsts gekannt hätte, so hätte sie mich vor dieser raschen Entscheidung gewarnt, die einen so tiefen Einfluß auf mein Schicksal und das der Meinen haben sollte.

      Der Leser mag sich vorstellen, in welchem Zustand ich in Antwerpen ankam. Ich fühlte mich wie ein plötzlich erwachender Nachtwandler vor dem Sarg meines Vaters, den die Nachricht über die Entscheidung in Weimar tief befriedigt hätte. Und wie wünschte ich selbst, ihm meine Dankbarkeit für seine Güte zu bezeigen, mit der er materielle Opfer auf sich genommen hatte, damit ich in aller Unabhängigkeit bis zum Augenblick meiner Hochzeit meinen Weg gehen konnte.

      Maria gegenüber empfand ich Skrupel, daß ich die für sie und unsere Kinder so wichtige Entscheidung allein getroffen hatte. Harry hatte am Morgen seiner Rückkehr nach Berlin – zur gleichen Stunde, zu der ich dem Begräbnis meines Vaters beiwohnte – Maria über alles unterrichtet. Mit der gleichen Entschlossenheit, die sie seit unserer Verlobung stets bewiesen hatte, stimmte sie dem Opfer zu, welches das Schicksal von mir forderte: dem endgültigen Verzicht auf das Haus »Bloemenwerf« und auf unsere Freunde in Belgien.

      Es stand uns die Lösung einer Reihe von großen Schwierigkeiten bevor. Ich sage »uns«, weil Maria an all diesen Problemen lebhaften Anteil nahm und weil sie viel dazu beitrug, die Lage zu entwirren: einen Aufenthalt abzubrechen, der von der Berliner Gesellschaft mit so viel Interesse und Wohlwollen begrüßt worden war, und vor allem den Vertrag mit Hirschwald aufzulösen, bevor die sensationelle Neuigkeit meiner Berufung nach Weimar bekanntgegeben werden konnte. Aus diesem Grund hatte ich vom Großherzog von Sachsen-Weimar einen Aufschub von wenigen Monaten erbeten.

      Paechter gelang es rasch, von Hirschwald die Einwilligung zu einer gütlichen Trennung zu erhalten. Viele, scheinbar widersprechende Gründe veranlaßten Hirschwald zu dieser Entscheidung: der fanatische Antisemitismus