Henry van de Velde

Meine Jahre in Weimar


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wo – wie er in seinem saftigen Berliner Dialekt sagte – der Künstler wie ein Fisch behandelt werde, dessen gutes Fleisch man genießt und ebenso rasch vergißt; am nächsten Tag verzehrt man den nächsten Fisch.

      Bevor wir Berlin verließen, hatten wir noch viele gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen und vor allem von vielen Freunden Abschied zu nehmen. Das Abschiedsessen, das wir Maximilian Harden, Walther Rathenau und Samuel Sänger gaben, dem eifrigen Mitarbeiter der unabhängigen Zeitschrift »Die Neue Rundschau«, der später Marias jüngere Schwester, die Schülerin des Geigers Eugène Ysaÿe, heiratete, erhielt eine besondere Bedeutung. Harden wollte ich den Dank für die Unterstützung abstatten, die er meiner Sache in seiner Zeitschrift »Die Zukunft« geliehen hatte, und zu Rathenau hatte sich seit meinen Vorträgen im Hause Cornelia Richters eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Gegen Ende der Mahlzeit waren unsere Geister vom lebhaften Gedankenaustausch, von den ausgezeichneten Speisen und dem guten Wein erhitzt. Als Maria die Tafel aufgehoben hatte und wir uns in den Salon begaben, sagte ich zu Harden: »Könnte ich nur einmal wie Sie, mein lieber Freund, in einer Festung oder einem Gefängnis in Ruhe leben und mich sammeln, um die Entdeckung zu überdenken, zu der mich gerade eben unser Gespräch geführt hat.«

      Wir saßen um den Tisch, Maria füllte unsere Kaffeetassen und Likörgläser. Harden nahm das Gespräch wieder auf und wendete sich an Rathenau und Sänger: »Van de Velde hat ein so großes Bedürfnis nach Ruhe, daß er bereit zu sein scheint, sich mit radikalen Mitteln den Verpflichtungen zu entziehen, die ihn hindern, über eine eben gemachte Entdeckung nachzudenken. Er beneidet mich um die Methode, die ich anzuwenden pflege: das Verbrechen der Majestätsbeleidigung.«

      Es verstand sich von selbst, daß ich nähere Erklärungen schuldig war. Maria wollte gehen, um uns »unter Männern« allein zu lassen; sie blieb stehen, um die neue Wahrheit zu erfahren, die mir aufgegangen war. Im Laufe unseres Gesprächs über die Fragen vernunftgemäßer Gestaltung war ich mir darüber klargeworden, daß die Entwicklung der von den Architekten und Kunsthandwerkern verwendeten Materialien seit der Antike in einer einzigen Richtung erfolgt: in der Richtung einer fortschreitenden Entmaterialisierung und Verringerung ihrer Schwere. Ich erinnerte an einige Beispiele. An die Entwicklung des Steines, die in der Gotik zu einer völligen Entmaterialisierung führt, an mittelalterliche Schmiedearbeiten, an das Filigran orientalischen Schmuckes, an venezianisches Glas, persische Teppiche und an Brüsseler Spitzen. Harden riß ein Blatt von seinem unvermeidlichen Notizblock, notierte den wesentlichen Inhalt meiner Worte und ließ sie von den Anwesenden unterschreiben. Dieses Blatt ist das erste Zeugnis einer Beobachtung, der alle Anwesenden in einer Atmosphäre von Begeisterung und guter Laune kapitale Bedeutung beimaßen. Ich selbst wünschte sechs Monate Ferien, um über die Entdeckung zu meditieren und ein Manuskript auszuarbeiten, das Harden zur Verfügung gestellt werden sollte.

      In Berlin vollendete ich noch die letzten Zeichnungen und Modelle für die Einrichtung von Osthaus’ Folkwang-Museum. Ich versuchte, Profile zu entwerfen, die zu den Balken und zum Metallgerüst des Gebäudes paßten. Mir schwebte dabei eine enge Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur vor. Es waren für die kleinen isolierten oder in Bündeln zusammengefaßten Stützbalken neuartige Profile zu schaffen, die mit der Konstruktion aufs engste zusammengingen. Die entstehenden Kurven und Profile waren ebenso frei von jedem dekorativen Hintergedanken wie die organisch entstandenen Kapitelle des dorischen oder ionischen Stils. Ich hatte ein Problem zu lösen, das in der Natur durch das Verhältnis von Skelett und Fleisch vorgebildet ist. Von hier aus gesehen, beantwortet sich die Frage nach der Verkleidung eines Metallgerüstes in gesunder und normaler Weise.

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