entkommen ist. Eine der bekanntesten Karten wurde im 16. Jahrhundert vom venezianischen Kartografen und Drucker Mateo Pagano angefertigt. Nachdem er das 1549 erschienene Buch Descriptio Alchiriae des französischen Orientalisten Guillaume Postel gelesen hatte, zeichnete er eine außergewöhnlich genaue und korrekte Karte von Kairo, die erste dieser Art – ohne die Stadt selbst je betreten zu haben. Er zeichnete sie aus einer imaginierten Luftperspektive, und während ich unzählige gestochen scharfe Panoramabilder mit meiner Canon-Kamera knipse, denke ich, dass der technologische Fortschritt ein Segen für uns Normalsterbliche ist, denen das Genie dieses Kartografen fehlt.
Die Gezira-Insel, auf der jetzt der Fernsehturm als selbstbewusste Landmarke thront, war bis Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der jährlichen Überschwemmungen nicht bewohnbar. Ismail, der Khedive, der den Suezkanal eröffnete, setzte in seinem Bestreben, aus Kairo eine Art Paris des Nahen Ostens zu machen, auch hier Ingenieure ein: Die Ufer wurden befestigt, und er ließ auf der Insel seinen Palast errichten. 1869, im Jahr der Kanaleröffnung, wurde auch der Palast fertiggestellt und war einzugsbereit. Rund um den Bau schuf ein französischer Landschaftsarchitekt eine riesige Parkanlage mit exotischen Pflanzen, die aus aller Welt hierhergebracht worden waren; hier konnte die königliche Familie jagen, den Nachmittag auf der Trabrennbahn verbringen oder Polo spielen. Ursprünglich war der Park fast fünf Hektar groß, heute aber lassen die vielen Hotels und Sportklubs kaum noch erkennen, dass diese grüne Lunge ein frühes Beispiel für den Wunsch der herrschenden Elite im 19. Jahrhundert war, am Nil Europa zu kopieren.
Von oben betrachtet, offenbart Kairo auf brutale Weise seine Abhängigkeit vom Fluss. Es wird nicht nur deutlich, wie er überhaupt erst ermöglichte, hier zu siedeln. Jede einzelne Grünanlage in Kairo wird mit Wasser vom Nil bewässert, die mehr als fünf Millionen Autos, die jeden Tag in der Stadt unterwegs sind, werden mit Nilwasser gewaschen, jede einzelne Körperreinigung der rund 20 Millionen hier lebenden Menschen wird mit Wasser des Nils vollzogen, und auch der Fußballplatz direkt unter dem Turm sowie die Pferde nebst Reitern, die um die Kurven der geradeaus nördlich liegenden Reitanlage galoppieren, sind abhängig vom Wasser des Nils. Ohne das Wasser, das aus dem Inneren Afrikas hierher strömt, würde es schlicht kein Kairo gegeben.
Es gibt heute viele pessimistische Vorhersagen über Kairos Zukunft, aber man kann immer Trost in der Geschichte finden: Der Mythos des Phönix entstand hier in dieser Gegend, denn alle 500 Jahre sollte der mythische Vogel mit der fantastischen Federpracht ins ungefähr acht Kilometer nordöstlich des heutigen Kairo gelegene Heliopolis, das biblische On, zurückkehren. Dort landete er auf dem brennenden Altar des großen Sonnentempels, um aus seiner Asche wiederaufzuerstehen, eine direkte Parallele zu einem Ägypten, das ebenfalls aus der Wüste wiederauferstand – jedes Jahr, nach jeder Überschwemmung.
Ein Nilometer, der nichts mehr misst
An der äußersten Südspitze der Insel Roda (man kann sie leicht vom Fernsehturm aus sehen) und nicht weit von den Pyramiden von Gizeh entfernt steht ein Gebäude mit einem braunen, kegelförmigen Dach, das ein Muss ist für alle, die Ägypten und Kairo verstehen wollen. Es handelt sich um das Haus der Überschwemmung. Jedes Mal, wenn ich es besucht habe, war ich alleine dort. »Hallo Wächter, wo bist du?« Er taucht auf, beugt sich zum Schloss hinab und schließt die Tür auf; es ist stockfinster. Er macht das Licht an, und plötzlich wird ein ungemein harmonischer und schöner Raum sichtbar. Eine breite Marmortreppe windet sich die Wand empor, mitten im Raum steht eine große Säule. Wir befinden uns in einem der vielen Nilometer Ägyptens, allerdings in dem wohl schönsten. Nachdem Nilometer über viele Generationen hinweg eine zentrale Rolle im Leben der Ägypter eingenommen haben (der sogenannte Palermostein aus dem 25. Jahrhundert v. Chr. hat eindeutige Inschriften über Nilfluten), ist dieser hier ebenso wie die zahlreichen anderen heute völlig funktionslos. Die Nilpolitik der Briten leitete eine technologische Entwicklung ein, durch die sie irrelevant wurden. Ihre Bedeutung liegt nun gerade darin, dass sie bedeutungslos geworden sind, denn diese Tatsache unterstreicht die Entwicklung, die Ägypten während des letzten Jahrhunderts durchlaufen hat.
Der Nilometer von Roda wurde 861 auf Befehl des Abbasiden-Kalifen al-Mutawakkil errichtet. Aber wahrscheinlich gab es an der gleichen Stelle schon seit der Pharaonenzeit einen Nilometer. Die ägyptische Staatsmacht verfügte schon äußerst früh über eine spezialisierte Wasserverwaltung, Per Mu genannt. Eine ihrer zentralen Aufgaben bestand darin, das Hochwasser zu messen und zu versuchen, dessen voraussichtlichen Höchststand zu bestimmen. So konnte man vorhersagen, wie der Herbst werden würde und welche Maßnahmen man ergreifen musste. Vor allem aber wurde auf diese Weise ermittelt, wie viele Steuern man von den Bauern würde einfordern können. Um diese Messungen durchzuführen, wurden entlang des Flusses die Nilometer errichtet, so wie hier das Haus der Überschwemmung. An der Säule sind in regelmäßigen Abständen Striche eingeritzt. Stand das Wasser an der Säule zu niedrig, wussten alle, dass sie in diesem Jahr von Nahrungsmangel und Hunger betroffen sein würden. Waren an der Säule mehr als 25 Striche bedeckt, stand das Wasser zu hoch, würde zu lange bleiben und in dem Jahr die Ernte zerstören.47 Die lokalen Herrscher hatten deshalb Leute, die herumgingen und ausriefen, welche Markierung das Wasser in den Nilometern entlang des Flusses erreicht hatte.
Anfang des 17. Jahrhunderts war die Kenntnis über die historische Bedeutung der Nilmessungen in Europa so verbreitet, dass der englische Dramatiker William Shakespeare den römischen Feldherrn Markus Antonius, der nach Cäsar über Ägypten herrschte, sagen lässt:
So ist der Brauch; sie messen dort den Strom / Nach Pyramidenstufen; daran sehn sie / Nach Höhe, Tief und Mittelstand, ob Teurung, / Ob Fülle folgt. Je höher schwoll der Nil, / Je mehr verspricht er; fällt er dann, so streut / Der Sämann auf den Schlamm und Moor sein Korn / Und erntet bald nachher.48
Kaum ein menschliches Vorhaben ist so regelmäßig über so lange Zeit durchgeführt worden und hat eine so große ökonomische und politische Bedeutung gehabt wie die Messung des Nil-Wasserstands. Dieser Nilometer auf der Insel Roda in Kairo wurde 861 auf Befehl des Abbasiden-Kalifen al-Mutawakkil errichtet.
Da die Wirtschaft und die Steuereinnahmen Ägyptens maßgeblich von diesem einen Faktor abhingen, wird man schwerlich irgendeine andere ökonomische und soziale Handlung finden, die so regelmäßig und so lange vollzogen worden ist und die eine größere Bedeutung gehabt hat als die Wasserstandsmessung des Nils in Ägypten. In unserem von Wasserknappheit und Klimakrise geprägten Zeitalter haben die Messungen mit den Nilometern eine neue Relevanz bekommen. Sie sind eine unschätzbare Quelle der Klimageschichte unseres Planeten. Denn kein anderes Naturphänomen ist so regelmäßig über so viele Jahre und so genau überwacht worden wie der Wasserstand des Nils.
Die Ägypter zeichnen auch verantwortlich für die Entwicklung eines der ersten Kalender. Das war vor ungefähr 5000 Jahren, und er beruhte vollständig auf der Rolle des Nils in der Gesellschaft und auf der Natur des Flusses.49 Seine wichtigste Funktion bestand darin, die Flutsaison anzukündigen. Aus demselben Grund ließen die Ägypter vom Mondkalender ab und entwickelten – als erste Gesellschaft – einen Sonnenkalender mit 365 Tagen. Sie hatten beobachtet, dass Sirius (»der Hundsstern«) einige Tage vor Eintreffen der jährlichen Flut direkt vor Sonnenaufgang zu sehen war. Die Bedeutung des Nils für den Arbeitsrhythmus und die Steuereinnahmen des Staates war daher in Kombination mit der hydrologischen Regelmäßigkeit des Flusses die fundamentale Voraussetzung dafür, dass der Sonnenkalender (ein Vorläufer des Julianischen Kalenders) entwickelt werden konnte und Bedeutung erlangte.
Als die Briten die Macht über den Nil übernahmen, wurde die Messung des Wasserstands noch wichtiger und noch wissenschaftlicher. Die alten Nilometer hatten jedoch ausgedient, weil sich das Verhältnis zwischen Mensch und Fluss änderte.
Konservative Kolonialisten als Vortrupp der Revolution
Nachdem die Briten 1882 die Macht in Ägypten übernahmen, das offiziell weiterhin zum Osmanischen Reichs gehörte, taten sie dies hauptsächlich, um Londons Kontrolle über den Suezkanal zu sichern. Sie