Er ließ Marians Arme los. »Scheint so, als hätten Sie etwas zu hoch einsteigen wollen. Jetzt wäre wohl der bessere Zeitpunkt.«
Marian drehte sich um. Immer noch rauschte der Strom der Läufer an ihm vorbei, Hunderte und Aberhunderte. Das da jedoch waren nicht mehr die langaufgeschossenen, drahtigen Gestalten der Spitzengruppe, die mit den hohlen Wangen und dem entschlossenen Blick. Die hier waren runder und bunter, liefen verhaltener, als hätten sie den weiten Weg im Sinn, nicht das Ziel. Hier schlenkerten Arme, drehten sich Köpfe, wandten sich Gesichter plaudernd einander zu. Jogger. Richtig um die Wette gelaufen wurde weiter vorne. Dort, wo er jetzt eigentlich hätte sein wollen.
»He, Marian!« Pink über Dunkelblau wippte es an ihm vorbei, gekrönt von einem kastanienroten Haarbusch, der auswehte wie die Heckflagge einer frechen kleinen Piratenschaluppe. Sina. Sie winkte, hielt aber nicht an. Marian holte tief Luft, winkelte die Ellbogen an, lief erneut los und reihte sich ein paar Plätze hinter ihr ein.
Der kühle Wind ließ ihn spüren, wie seine Wangen brannten. Anstrengung konnte das noch nicht sein, eher Scham. Marian Godehau, der Traumtänzer. Sieben Kilo abgespeckt, ein bisschen auf dem Ergometer gestrampelt, sich an lang vergangene Fußballerzeiten erinnert, mutig für den Ostfrieslandlauf angemeldet – und natürlich gleich Flausen im Kopf gehabt. In die Startergruppe der Spitzenläufer reingedrängelt, na klar. Wie es die Deppen tun, die unbedingt mit aufs Startfoto wollen und nur alles durcheinander bringen. Die angerempelt und nach hinten durchgereicht werden, weil sie stören und nerven. Wenn die Langläufer wirklich die große Familie waren, als die sie immer gepriesen wurden, dann eine mit Problemkindern.
Marian spürte, dass er die Lippen zurückgezogen hatte und mit gefletschten Zähnen lief. Seine Armmuskeln waren viel zu stark angespannt, seine Schritte zu stampfig, und das Herz pochte Alarm. Er versuchte sich auf seine Atmung zu konzentrieren: Ein – zwo, drei, vier, und aus – zwo, drei, vier. Er konnte spüren, wie sich sein Puls nach und nach normalisierte. Seine Schritte wurden länger und weicher. Ein gutes Tempo, es schien ihm zu entsprechen. Genau das Tempo der Jogger um ihn herum. Marian begann sich damit abzufinden.
Wieder heftete er seinen Blick an ein vor ihm tanzendes, wippendes, wogendes, Falten und Wellen schlagendes Läufertrikot, ließ sich von seinen Bewegungen beruhigen und ziehen. Ein pinkfarbenes Trikot über einer dunkelblauen Radlerhose. Marians Blick rutschte ein Stückchen hinunter über den dünnen, glatten Stoff der eng anliegenden Hose, der sich im Laufrhythmus mal links, mal rechts aufwölbte. Ein netter Anblick, der ihn dazu bewog, noch ein paar Meter aufzuschließen.
Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass er hinter Sina lief, dass er heute Morgen an genau diesen Po geschmiegt aufgewacht war. Sie lief mit unbekümmerter Lockerheit, federnd, fast schwebend, wie von Instinkten gesteuert. Marian wischte sich den Schweiß von der Stirn und wunderte sich über Sinas unruhige Armführung, bis er merkte, dass sie sich offenkundig angeregt und immer wieder heftig gestikulierend mit dem Läufer zu ihrer Rechten unterhielt, einem dunkellockigen, breit grinsenden, etwas übergewichtigen Kerl mit der animalischen Ausstrahlung ungetrübter Selbstgefälligkeit, der trotz seiner vielleicht 50 Jahre ziemlich fit wirkte und ganz bestimmt nicht deshalb hier im hinteren Teil des Feldes neben dieser bildhübschen Frau lief, weil er nicht schneller gekonnt hätte. Marian kannte diesen Mann, kannte ihn nur zu gut, und es behagte ihm gar nicht, gerade ihm auf einem Terrain zu begegnen, auf dem er offenkundig nicht mithalten konnte.
Man sollte nur Sachen machen, die man kann, dachte Marian. Aber wer wusste schon, was er konnte, ohne es zu versuchen? Laufen, um die eigenen Grenzen zu erkunden. Ha! Dafür, so schien es, würde er wohl nicht allzu weit laufen müssen.
2
Der Mensch hat sich auf treibende Baumstämme gesetzt, überlegte Stahnke, während er dem Ende der vielbeinigen Läuferschlange nachschaute, das gerade zwischen den dicht belaubten Bäumen des Julianenparks verschwand. Flöße hat er sich gebaut, dann Schiffe. Pferde hat er gefangen und gezähmt, Wagen gebaut, Kutschen, Eisenbahnen und schließlich sogar Flugzeuge. Alles, um nicht mehr laufen zu müssen. Und was passiert? Kaum muss er nicht mehr laufen, schon tut er’s gerade. So sind sie, die Menschen. Da kann ja nichts draus werden.
Wie zum Trotz blieb er noch ein Weilchen stehen, massig und massiv wie eine Litfaßsäule in seinem hellen, knitterigen Trenchcoat, der dünn war und doch schon viel zu warm für diesen unerwartet sonnigen Spätnachmittag im Mai. Dieser Tag gab sich alle Mühe, den nasskalten Herbst, den ebenso nasskalten Winter und die kaum weniger nasskalte erste Frühlingshälfte, die ihm vorangegangen waren, vergessen zu machen. Schöne Tage konnte es geben hier in Ostfriesland, herrliche Tage sogar, nur eben nicht im Überfluss, und wenn man mal einen erwischte, einen wie diesen, trotz der Schauer am Vormittag, dann musste man ihn auch nutzen. Und nicht weglaufen. Stahnke stand, mit der ganzen Ortsfestigkeit seiner zwei Zentner, drückte die breiten Schultern nach hinten, streckte seine Wirbelsäule und atmete tief ein. Und nutzte. »Carpe diem«, nutze den Tag, ach ja.
»Na Chef, gar nicht mitgelaufen?«
»Wir dachten, Sie sind längst in Holtland.«
Stahnke gestattete sich ein halbes Grinsen und grüßte die beiden grün uniformierten, knorrigen, graubärtigen Gestalten, indem er den dicken Zeigefinger seiner rechten Hand in die Nähe seiner weißblonden Haarstoppeln hob, dorthin, wo die Krempe eines großen, aber wirklich sehr großen, tief ins Gesicht gezogenen Borsalinos gewesen wäre, wenn er denn einen getragen hätte. Was er nie tat. Natürlich, Rieken und van Dieken, die Schupo-Zwillinge. Die beiden ließen wirklich keine Sportveranstaltung aus. Wie sie es schafften, immer wieder auch dann zum Sicherungsdienst eingeteilt zu werden, wenn es nach menschlichem Ermessen nichts, aber auch gar nichts zu sichern gab, war ihr seit Jahren wohlgehütetes Geheimnis.
»Fahren Sie nur vor, meine Herren«, sagte Stahnke. »Zielraum sichern. Oder?«
»Genau, Herr Hauptkommissar«, sagte Rieken. »Aber erst noch die Strecke observieren.«
»Man weiß ja nie, Herr Hauptkommissar«, sagte van Dieken.
Die beiden schlenderten Richtung Parkstreifen, wo ein VW-Bulli in Mint und Weiß durchs helle Blattgrün hindurch zu erahnen war, und auch Stahnke setzte sich nun in Bewegung, ging langsam zwischen dicken Bäumen hindurch zur Bolzwiese, die wie eine Lichtung am Rand des Julianenparks lag.
Jedes Jahr wurde hier der Ostfrieslandlauf gestartet, liebevoll Ossiloop genannt, und mit jedem Jahr wurde das Starterfeld größer. Inzwischen war man nicht mehr weit von tausend Teilnehmern entfernt. Sicher, viele Cityläufe hatten mehr Resonanz vorzuweisen. Der Ossiloop aber war etwas Besonderes, ein Sechs-Etappen-Lauf quer durch Ostfriesland von Leer bis nach Bensersiel, ein Unternehmen von insgesamt fast 70 Kilometern, zu absolvieren an sechs Tagen innerhalb von drei Wochen, jeweils dienstags und freitags. Als echter Ossilooper galt nur, wer wirklich alle Etappen hinter sich brachte. Die Zeit, so lautete die offizielle Version, war dabei Nebensache. Das aber galt längst nicht mehr für alle. Schadenfroh dachte Stahnke daran, wie Marian Godehau das vorhin zu spüren bekommen hatte.
Seinetwegen war Stahnke überhaupt hergekommen. Schließlich waren sie sich in den letzten Jahren oft genug über den Weg gelaufen, da hatte sich einiges an gemeinsamer Erfahrung angesammelt. Die meiste Zeit war ihr Verhältnis nicht gerade positiv gewesen; Stahnke hatte sich darüber geärgert, dass sich dieser vorwitzige, fast 20 Jahre jüngere Journalist immer wieder in seine Fälle eingemischt hatte, Marian Godehau hatte dem Hauptkommissar nicht nur anfänglich stark misstraut und sich mehr als einmal von ihm benutzt gefühlt. Sie siezten sich immer noch, aber eine gewisse Verbundenheit war dennoch nicht zu leugnen. Eine kumpelhafte Vertrautheit, anders als Freundschaft, aber nicht minder intensiv. Ob es das war, wovon alte Kriegskameraden immer faselten? Grinsend schüttelte Stahnke den Kopf.
Das Fahrrad war noch da. Grellgelb leuchtend lehnte es an einem der alten Bäume zwischen Bolzwiese und Fahrradweg, der hier die Peripherie des Parks schnitt. Ein Anblick wie ein Willkommensgruß, fand Stahnke, erfüllt von frischem Besitzerstolz und der Erleichterung darüber, dass sein neues Spielzeug noch nicht Eingang in die alarmierende Fahrraddiebstahl-Statistik gefunden hatte. Na ja, das Stahldrahtschloss war ja auch nicht eben billig gewesen.
Ein bisschen war dieses Fahrrad – 21