Peter Gerdes

Der Tod läuft mit


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      Schnurgeradeaus ging es jetzt, zwischen aufgereihten jungen Birken hindurch, hinter denen sich graubraune Felder erstreckten, weit und eben wie Kuchenplatten. Da links musste irgendwo die Bundesstraße sein. Brannte es da? Nein, ein Bauer eggte sein Feld, und grauer Staub stieg hoch auf wie Rauch. Der Traktor hatte eine geschlossene Kabine, vermutlich klimatisiert und mit Stereo-CD-Player. Dem Mann da drinnen würde es wohl kaum einfallen, bei diesem Wetter draußen in der prallen Sonne herumzurennen. Der war ja nicht blöd. Der saß auf seinem gasdruckgedämpften, gut gepolsterten Treckersitz und hörte Techno, irgend so ein Daggadaggadaggadumpfdumpf, wie man es nachts durchs Schlafzimmerfenster hören konnte, wenn die Tiefergelegten ihre Runden drehten. Daggadaggadumpf. Dadumpf. Macht schön stumpf, daggadaggadumpf. Eins zwo, eins zwo. Daggadaggadumpf. Dadumpf. Dadumpf.

      Menschen. Klatschen. Rufe, unverständlich, aber anfeuernd. Die Birkenallee war plötzlich auf einen kleinen Rest zusammengeschrumpft, da war eine Kurve, da standen Leute. Den letzten Kilometer musste er wie in Trance gelaufen sein. Jetzt, jetzt endlich spürte er das Prickeln, auf das er vor anderthalb Kilometern vergeblich gewartet hatte, fühlte neue Kraft in seinen Oberschenkeln, an deren Innenseiten schon seit geraumer Zeit ein gut entwickelter Wolf knabberte, jetzt endlich war er sicher, das Ziel doch noch zu erreichen. Mit dem Kopf und mit dem Rest seines Körpers auch. Lebendig.

      Da war das Ziel, da war die Einlaufgasse, da standen die Unentwegten, die aus Prinzip applaudierten, um auch wirklich jede irgendwie erbrachte Leistung zu würdigen, wobei viele Gesichter durchaus andere Motive verrieten. Die Ankunft der Nachhut, der schwankenden Gestalten, der Fußkranken des langen Marsches schien auch eine Menge wohliger Schadenfreude zu bereiten.

      Viele der in kleinen Gruppen plaudernd Herumstehenden trugen Sportkleidung, lose um die Schultern hängende Trainingsjacken und kurze Hosen, standen völlig entspannt, atmeten ruhig, Stirn und Haare bereits wieder von der Sonne getrocknet. Die Läufer, die richtigen Läufer. Einige rüsteten schon zur Heimfahrt, winkten Grüße, vorbei an denen, die ein ganz anderes Rennen gelaufen zu sein schienen, das erst jetzt beendet war. Endlich.

      Marian entdeckte Stahnke, während er die Ziellinie überquerte und unmittelbar dahinter stehen blieb, unfähig und auch nicht willens, auch nur einen weiteren Meter zu laufen, krebsrot und nach Luft schnappend wie ein Fisch. Der Gesichtsausdruck des Hauptkommissars war schwer zu deuten. Jedenfalls grinste er nicht, was Marian noch am ehesten erwartet hatte. Trotzdem drehte er sich weg. Nein, jetzt nicht. Irgendwer reichte ihm einen Becher, und er trank gierig.

      Wo war Sina? In dem Getümmel zwischen Zielraum und Parkplatz, Krankenwagen und Getränkeständen konnte er sie nirgends entdecken. Dafür sah er den weißhaarigen alten Mann, der ihn unterwegs überholt hatte. Jetzt taumelte er zwischen zwei Sanitätern, die Arme um ihre Schultern gelegt, mit hängendem Kopf und eingeknickten Knien, und wurde zum Krankenwagen geführt, interessiert beäugt von zwei knorrigen Uniformierten. Keine Spur mehr von erfolgsgewohnter Führungskraft – ein Wrack.

      Marian sah es mit einer Befriedigung, die von keinerlei Scham getrübt war. Immerhin hatte ihn dieser Mensch durch die selbstgefällige Demonstration seiner angeblichen Überlegenheit fast zur Aufgabe getrieben. Einer Überlegenheit, die es wohl vor allem in seinem Kopf gab und deren Demonstration der Körper hatte ausbaden müssen. Was offenkundig über seine Kräfte gegangen war. Alter Angeber. Geschah ihm recht.

      Da war Sina. Sie palaverte schon wieder mit diesem schwarzlockigen Büffel, dem man es an der Nasenspitze ansehen konnte, wie sehr ihm gerade der Sinn nach einer gemischten Dusche stand. Die beiden gingen an ihm vorbei, ohne ihn wahrzunehmen, so nahe, dass er nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um Sina zu berühren.

      Aber er tat es nicht.

      6

      »Was ist mit ihm?« Stahnkes professionelle Neugier ließ sich nicht so einfach abstellen. Wendelin Krüger war immerhin ein Promi, da gehörte es schon zum beruflichen Selbstschutz, sich auf dem Laufenden zu halten.

      »Kreislaufschwäche.« Den blonden Mann, der ihm antwortete, hätte er nicht ohne Weiteres als Arzt identifiziert. Er war jung und trug kurze Hosen unter seinem Sweatshirt, offenbar hatte er selber am Ostfrieslandlauf teilgenommen. »Erhöhte Pulsfrequenz, geht aber schon wieder runter. Außerdem hat er zu viel Sonne abbekommen.« Die Sanitäter, die Krüger inzwischen im Wagen verstaut hatten, warfen dem Doktor fragende Blicke zu. Als der den Kopf schüttelte, schlossen sie die Türen, starteten den Motor und fuhren an. Langsam bahnte sich der Krankenwagen einen Weg durch die immer noch wimmelnde Menge, ohne Sirene und Blaulicht. Allzu schlimm schien es wirklich nicht zu sein.

      »Sind Sie ein Verwandter von Herrn Krüger?« Der junge Arzt schien seine unbefangene Auskunftsbereitschaft zu bedauern. »Oder sind Sie etwa von der Presse?«

      Stahnke wies sich aus; der Doktor schien beeindruckt: »Personenschutz für Herrn Krüger? Na ja, hätte ich mir ja denken können.« Mit der rechten Hand deutete er an Stahnke vorbei, und als der sich umwandte, blickte er in die grinsenden Gesichter von Rieken und van Dieken.

      »Ich hatte mich schon gewundert, warum hier so aufwändig gesichert wird«, fuhr der Arzt fort, nunmehr in fast vertraulichem Tonfall. »Eigentlich besteht dafür ja gar kein Anlass, was soll beim Ossiloop schon groß passieren?«

      Wieder wandte sich Stahnke um, aber der bedeutungsvolle Blick, der Rieken und van Dieken zugedacht war und künftige Korrekturen der Dienstplangestaltung androhen sollte, fiel ins Leere. Die beiden schienen auch Meister im rückstandslosen Verschwinden zu sein.

      »Einer wie Herr Krüger ist natürlich immer gefährdet.« Der Arzt nickte sich selber bestätigend zu, schien sich förmlich in seine eigene Personenschutzthese einzuwickeln. Stahnke ließ ihn gewähren. »Darum also waren Sie mit dem Fahrrad auf der Strecke. Hatte mich schon gewundert. Wissen Sie, eigentlich mögen wir Läufer das ja nicht, es könnte ja sein, dass jemand einen Schrittmacher vorausfahren lässt. Aber Sie haben ja öfter Ihre Position gewechselt.«

      »Das haben Sie bemerkt?«

      »Ja, ich war meistens hinter Ihnen. Bin keiner von den Schnellsten, wissen Sie.« Er lächelte ein verzerrtes, Nachsicht und aufbauendes Lob heischendes Lächeln; Stahnke fühlte sich peinlich berührt. Da er keinerlei Reaktion zeigte, plapperte sein Gegenüber weiter. »Aber vor sich selber kann man ja niemanden schützen, das gilt offenbar auch für Herrn Krüger. Aus dem gefährlichen Alter, in dem Männer den natürlichen Leistungsabfall nicht wahrhaben wollen und ihn einfach ignorieren, ist er ja eigentlich schon heraus. Aber sein Ehrgeiz ist wohl stark entwickelt, stärker als sein Kreislauf. Man kann es auch Eitelkeit nennen. Würde ich mir aber nie erlauben.«

      »Wann ist denn dieses gefährliche Alter?«, fragte Stahnke.

      »Na so zwischen 40 und 50«, sagte der Arzt. Er musterte den Hauptkommissar eingehend und öffnete den Mund. Als er aber in Stahnkes Gesicht schaute, kniff er die Lippen wieder zusammen, grüßte kurz und wandte sich ab.

      Gefährliches Alter! Wenn überhaupt, dann pflegte Stahnke von sich selbst als Gefahr für andere zu denken, nicht aber als gefährdet. Dass ihm sein Übergewicht keinen sonderlich beneidenswerten Platz in der Lebenserwartungsstatistik sicherte, war ihm bewusst. Den Arzt aber, der ihm das anhand seiner Blutwerte vorgerechnet hatte, mied er schon seit Jahren – und ging es ihm deswegen etwa schlechter?

      Prüfend fuhr er mit den Handflächen seine Rumpfkonturen ab. Sehr bedauerlich, dass sein Trenchcoat noch auf dem Gepäckträger klemmte. Ohne ihn fühlte er sich plötzlich deckungslos.

      »Na, was macht Ihnen denn Bauchschmerzen?« Wie aus dem Boden gewachsen stand Sina Gersema vor ihm, strahlend und rosig, aufgekratzt und immer noch so erhitzt, dass sie ihn förmlich einhüllte in eine bauschige Wolke aus Körperwärme und Schweißduft. Ja, eindeutig Duft, ein wenig mit den Spuren eines überforderten Deodorants verbrämt, hauptsächlich aber der Duft frisch vergossenen Schweißes, vergossen von einem Frauenkörper. Von einem außerordentlich hübschen Frauenkörper, der in knappem Sportdress wenig mehr als eine Spanne vor seinen Hemdknöpfen zu vibrieren schien, offenbar immer noch unter den Nachwirkungen des Laufes. Sie schien ihn genossen zu haben – kein Vergleich mit dem Bild des Jammers, das Marian Godehau vorhin abgegeben hatte.