Peter Gerdes

Der Tod läuft mit


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sagte er, »Sie beehren mich bitte ein anderes Mal. Wenn Sie mal wieder müssen. Das dürfen Sie hier gerne, wenn’s recht ist. Und wenn Zeit ist.«

      Zimmermanns Gebrüll schallte hinter ihm her bis auf den Flur. Nicht schlecht, dachte Stahnke. Gleich zwei Duelle gewonnen. Vielleicht wird das ja sogar noch ein richtig netter Tag.

      8

      »Kommen Sie, Stahnke, das kann doch einfach nicht alles sein.« Ungeduldig war Marian Godehau schon länger gewesen, jetzt wurde er ärgerlich. »Plötzlicher Kindstod, okay, davon habe ich schon gehört. Aber plötzlicher Tod einer überreifen Führungskraft ohne erkennbare Ursache, das ist ja wohl ein Witz.«

      »Dann lachen Sie doch.« Stahnke war überhaupt nicht nach Spaßen zu Mute. Fast Mittag, die sensationelle Nachricht hatte sich längst herumgesprochen, Marian war zwar der erste, würde aber gewiss nicht der einzige Journalist bleiben, der hier im Verwaltungsgebäude der Optotrans auftauchte, und er wartete immer noch auf eine erste Tendenzmeldung der Ärzte. Bisher vergeblich.

      Krügers Büro war groß, noch größer, als man es hatte vermuten können. So groß, dass sie ruhig im Eingangsbereich warten konnten, ohne unerwünscht viele Details von dem mitzubekommen, was die Ärzte da trieben. Der Tote lag rücklings auf dem rasenweichen Teppich, auf halbem Wege zwischen Schreibtisch und Fensterfront, die langen, hageren Arme und Beine merkwürdig asymmetrisch angewinkelt, so dass Stahnke sich unwillkürlich an ein Hakenkreuz erinnert fühlte.

      Krügers Schreibtisch bestand aus seidig schimmerndem, dunkelbraunem Holz, war der Raumgröße entsprechend gigantisch dimensioniert und ausladend viertelrund, fast wie einer dieser Söller, von denen herab gekrönte wie ungekrönte Herrscher zu ihrem Volk zu sprechen pflegten. Auf der Schreibtischplatte hätte die gesamte englische Königsfamilie samt Queen Mom Platz gefunden. Stahnke konnte sich gut vorstellen, wie Krüger in dem breiten, hochlehnigen Sessel dahinter residiert und Hof gehalten hatte. Dort hatte er bestimmt eine bessere Figur gemacht als damals auf dem maroden Besucherstuhl im 1. Kommissariat, wo er wegen seiner dubiosen Lager vernommen worden war.

      Hinter dem Sessel an der cremefarbenen, dezent strukturierten Wand hing ein Ölgemälde, ebenfalls riesig, eine Wiedergabe der Opto-Fahrzeugwerke, ziemlich naturalistisch, ziemlich langweilig. Stahnke hatte schon andere Gemälde von Industrieanlagen gesehen, hyperrealistische darunter, die von innen heraus zu strahlen schienen und ein deutliches Gefühl für die Faszination dieser Art von Architektur vermittelten. Dieses hier wirkte höchstens durch seine Ausdehnung. Klar, die Opto-Werke waren groß, riesengroß sogar, eine machtvolle Konzernmutter, und hier, im Angesicht des Geschäftsführers der Tochterfirma Optotrans, wurde man nachdrücklich daran erinnert. Sehr nachdrücklich und reichlich plump.

      Weitere, deutlich kleinere Bilder waren über die anderen Wände verteilt, Wände, an denen Stahnke die sonst üblichen Bücher- und Aktenregale vermisste. Deren zumeist ohnehin nur symbolische Bedeutung wurde vermutlich von dem Computer wahrgenommen, dessen 19-Zoll-Monitor auf dem linken Schreibtischflügel thronte.

      Mangels anderer Beschäftigung ließ Stahnke seinen Blick über die Bilder wandern. Norddeutsche Landschaften in Aquarell und Pastell hingen neben abstrakten Werken, ein Stilmix ohne erkennbares Auswahlprinzip. »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen«. Faust, oder? Immer gib ihm Bildung!

      Dem Schreibtisch gegenüber sah es etwas anders aus, dort hingen ausschließlich kleinere Bilder, lauter Porträts. Würdige ältere Herren; in jedem einzelnen von ihnen glaubte Stahnke auf den ersten Blick Doktor Wendelin Krüger persönlich zu erkennen.

      Auf den zweiten aber blieben nicht einmal familiäre Ähnlichkeiten, sondern höchstens – wie sagte man unter Autobauern? Typbedingte? Alle zeigten dieses aufmunternde Lächeln, das Überlegenheit transportierte und ein wenig Hohn. Erfolgsmenschen. Eine Ahnengalerie leitender Optotrans Angestellter, vermutlich.

      Stahnke zuckte zusammen, als Marian ihn anstupste. Doktor Mergner hatte sich vor ihnen aufgebaut und heischte Beachtung – hoffentlich noch nicht allzu lange. Stahnke hob die Augenbrauen und signalisierte Dienstbeflissenheit.

      »Tjaa …« Mergner, der mit seinen halblangen, struppigen, leicht ergrauten Haaren und den flaschenbodendicken Brillengläsern eher an einen vom Weltgeist beseelten Philosophen als an einen Naturwissenschaftler erinnerte, breitete die Arme aus, und Stahnke sah seine Hoffnung auf eine klare Diagnose schwinden. »Ganz allgemein gesprochen, haben wir es hier mit Tod durch Herzversagen zu tun. Eine Todesursache, die Sie auf Tausenden von Totenscheinen finden werden. Wenn der Tote alt ist und nicht gerade Geschäftsführer eines bedeutenden Betriebes, gibt man sich ja für gewöhnlich auch damit zufrieden.«

      Stahnke nickte. Wie viele perfekte Morde wohl schon mit diesem einen Wort besiegelt worden waren? Die Pflege alter, kranker Angehöriger war eine aufreibende Sache, die ganze Familien bis an die Grenze des Erträglichen belasten konnte, und jahrelang unerfüllte Erbschaftshoffnungen gingen an die Nerven. Am Ende reichte dann ein Kissen, ein verkramtes oder falsch dosiertes Medikament, ein über Nacht offen stehendes Fenster, eine laut knallende Tür. Und letztlich hörte ja bei jedem Tod ein Herz auf zu schlagen.

      Krüger jedoch war zwar alt, aber keineswegs pflegebedürftig gewesen. Die Pensionsgrenze hatte er hinter sich gehabt, das aber zählte bei Führungskräften bekanntlich wenig. So hatte ihn der Tod buchstäblich mitten aus dem aktiven Leben gerissen. Nur welcher?

      »Eine Vorschädigung des Herzens liegt bei Doktor Krüger nicht vor, sagt sein Hausarzt.« Mergner hatte bereits recherchiert. »Überhaupt war der Mann für sein Alter bemerkenswert gesund. Trieb auch regelmäßig Sport.«

      Stahnke entschied, den Seitenblick nicht bemerkt zu haben. »Soll ja auch nicht ganz ungefährlich sein«, sagte er. »Gestern ist Krüger fast elf Kilometer gelaufen und hatte anschließend einen Schwächeanfall. Kann es da einen Zusammenhang geben?«

      Mergner schüttelte den Kopf. »Wenn, dann hätte es während des Laufs oder unmittelbar danach, wenn sich der Körper von erhöhter auf normale Belastung umstellt, passieren müssen. Woher wissen Sie das übrigens?«

      »Stand praktisch direkt daneben«, sagte Stahnke.

      »Ich auch«, ergänzte Marian, der sich kein Wort hatte entgehen lassen.

      Mergner stutzte, blickte von einem zum anderen, entschied sich dann jedoch, keine Fragen zu stellen, und fuhr fort: »Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, nämlich das zentrale Nervensystem. Haben Sie sich sein Gesicht mal angesehen? Augen und Mund stehen offen, die Gesichtshaut ist bläulich verfärbt, die Zunge ebenfalls blau. Das deutet auf plötzlich aufgetretene Atemnot hin. Möglicherweise Atmungsversagen.«

      »Demnach wäre er auf dem Weg zum Fenster gewesen, um nach Luft zu schnappen«, sagte Stahnke und deutete mit dem Kinn auf die Stelle, wo Krügers mittlerweile abgedeckter Körper lag. »Atemnot tritt aber auch bei Herzinfarkt auf, oder?«

      »Richtig«, entgegnete Mergner. »Alles andere als ein klares Bild also. Dazu dann noch diese unnatürlich geröteten Hautpartien, vor allem im Nacken. Passt nicht so recht zusammen.«

      »Sonnenbrand vermutlich«, sagte Marian und bewegte vorsichtig seine eigenen versengten Schultern unter dem unangenehm scheuernden Hemd.

      Mergner runzelte die Stirn: »Eher nicht. Dafür ist die Rötung zu partiell. Außerdem gibt es auch rote Stellen im Rückenbereich. Und beim Laufen hat er doch wohl ein Hemd getragen.«

      »Unnatürliche Todesursache also nicht ausgeschlossen?«, fragte Stahnke.

      Mergner nickte. »Nicht ausgeschlossen, weil ich noch keine zwingende natürliche erkennen kann. Aber eben nur deshalb.«

      »Also Obduktion?«

      »Ja«, sagte Mergner. Stahnke seufzte.

      »Was heißt das nun?«, fragte Marian.

      »Das heißt: Keine Stellungnahme«, sagte Stahnke. »Sie kennen ja die Regeln.«

      »Und was sage ich meinem Chef?«

      »Was sage ich meinem?«

      Diesmal seufzten sie beide.