»Dann hat sie vielleicht jemand mitgenommen. Oder sie ist mit der Bahn gefahren.«
»Und wie soll sie zum Bahnhof gekommen sein? Nee, irgendetwas stimmt da nicht. Ich gehe nachher mal rüber und klingle bei ihr.«
»Haie«, mahnte Tom den Freund. Hier im Dorf bekam ohnehin jeder so gut wie alles mit, und er fragte sich, ob man sich wirklich überall einmischen musste.
»Vielleicht ist sie krank oder braucht Hilfe«, rechtfertigte Haie sich und fing an, den Frühstückstisch abzuräumen.
Tom schnappte sich schnell noch eine Scheibe Brot, ehe Haie ihm den Korb entriss. Ihm war klar, er würde den Freund sowieso nicht aufhalten können. Hoffentlich kam er nicht noch auf die Idee, ihren Freund bei der Polizei damit zu belästigen. Wahrscheinlich wollte die Frau nebenan einfach nur mal ihre Ruhe haben.
»Oder soll ich Dirk anrufen?«, schlug Haie auch schon vor.
»Nee, wirklich nicht. Also weißt du, der hat nun wirklich weiß Gott andere Dinge zu tun, als sich um geschlossene Jalousien zu kümmern.«
Haie schob beleidigt die Unterlippe vor und räumte den Tisch weiter ab.
Tom erhob sich seufzend und ging ins Bad. Er wusste, Haie würde eh tun, was er für notwendig hielt. Denn er fühlte sich für das Dorf – insbesondere seine Bewohner – mehr als verantwortlich. Ein Stück weit konnte Tom das verstehen, immerhin war Haie hier geboren, aufgewachsen und – wie Tom oftmals scherzhaft anmerkte – »nicht weggekommen«. Risum war schlichtweg Haies Leben. Aber er war kein Polizist, wenngleich er schon so manches Mal geholfen hatte, ein Verbrechen aufzuklären. Ganz so friedlich, wie es auf den ersten Blick schien, war es in dem Dorf nämlich nicht. Und durch ihre Freundschaft zu Kommissar Thamsen bekamen sie mehr mit als manch anderer hier. Haie fühlte sich mittlerweile als Kriminalist und wurde von einigen Bewohnern Risums als eine Art Hilfssheriff angesehen. Und daher, das wusste Tom, würde Haie keine Ruhe geben, ehe er nicht herausgefunden hatte, wo Tatjana Lieberknecht steckte.
Dirk Thamsen kam heute später als gewöhnlich in die Dienststelle. Im Augenblick war es relativ ruhig, das Verbrechen machte Pause, daher hatte er sich die Zeit genommen, mit seiner Familie ausgiebig zu frühstücken. Anschließend hatte er Lotta in die Schule und Hanno in den Kindergarten gebracht. Dörte, seine Lebenspartnerin, war froh über jede Unterstützung, denn seit zwei Monaten hatte sie wieder angefangen zu arbeiten. Zwar nur stundenweise, aber Thamsen freute sich darüber, denn nun gab es wieder andere Gesprächsthemen außer den Kindern. Dörte war deutlich anzusehen, wie gut es ihr tat, wieder rauszukommen und etwas Eigenes zu haben. Daher versuchte er ihr so gut es ging im Haushalt und mit den Kindern zu helfen, was ihm allerdings nicht immer gelang. Als Dienststellenleiter hatte er einen stressigen Job. Hinzu kam, dass seine Mutter demenzkrank war und er sich um sie kümmern musste. Sie lebte mittlerweile in einem betreuten Wohnheim und so oft es ihm möglich war, besuchte er sie.
Er parkte den Wagen vor dem Gebäude der Polizei in der Gather Landstraße und stieg aus. Es wehte ein kalter Ostwind; daher ging er mit großen Schritten zum Eingang, um schnell ins Warme zu gelangen. Er grüßte einen Mitarbeiter, den er auf dem Weg zur Gemeinschaftsküche traf, holte sich einen Kaffee und betrat anschließend sein Büro. Gerade als er den Computer hochgefahren hatte, klingelte sein Telefon.
»Thamsen?«
»Dirk, gut, dass ich dich erreiche«, pustete Haie in den Hörer.
»Ist was passiert?« Der Freund war nicht mehr der Jüngste, Thamsen machte sich schon eine Weile Sorgen, wohingegen Haie diese stets als unbegründet abtat.
»Ja, meine Nachbarin ist verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Ich will eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
»Nun mal langsam«, stoppte Dirk den Freund. »Was genau ist denn passiert?«
Haie berichtete von den heruntergelassenen Jalousien und davon, dass er Tatjana Lieberknecht seit Tagen nicht gesehen hatte.
»Vielleicht ist sie verreist? Oder einfach krank. Hast du mal bei ihr geklingelt?«
»Ja, aber da regt sich nichts im Haus. Und wenn sie in den Urlaub fährt, sagt sie mir eigentlich immer Bescheid.«
»Na ja, vielleicht ist etwas Ungeplantes passiert und sie konnte dich nicht informieren.« Thamsen schätzte Haies Aufmerksamkeit, denn in der Vergangenheit hatte der Freund ihn oftmals mit Informationen unterstützt, doch in diesem Fall hielt er Haies Aufregung für ein wenig übertrieben.
»Also, ich habe jetzt schon mal im Krankenhaus angerufen – da ist sie jedenfalls nicht.«
»Und wenn mit ihrer Familie etwas passiert ist? Es könnte einen Notfall gegeben haben.«
»Hm«, stutzte Haie, denn diesen Umstand schien er nicht berücksichtigt zu haben.
»Das ist natürlich möglich«, räumte er ein. »Aber kann ich nicht vorsorglich eine Vermisstenanzeige …«
»Haie, das geht nicht. Ich meine, deine Nachbarin ist eine erwachsene Frau. Solange es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt … Oder ist sie suizidgefährdet?«
»Nicht dass ich wüsste, aber …«
»Dann müssen wir abwarten.«
2. Kapitel
Genau dieses Abwarten fiel Haie schwer – das war einfach nicht sein Ding. Rumsitzen und nichts tun, das war für ihn kaum auszuhalten, daher versuchte er sich mit Hausarbeit abzulenken.
Innerhalb von zwei Tagen hatte er das gesamte Haus geputzt, hatte den Frühjahrsputz einfach vorgezogen und alles auf den Kopf gestellt, bis nichts mehr da war, das es aufzuräumen oder zu putzen gab. Alles blinkte und blitzte. Sein Blick fiel wieder einmal zum Nachbarhaus. Er beschloss, dass es nicht schaden konnte, sich im Dorf ein wenig umzuhören. Der beste Ort dafür war natürlich der Sparladen, wo viele Dorfbewohner zusammenkamen und wo Helene, die Kaufmannsfrau, dadurch die Nachrichtenquelle schlechthin in der Gegend war. Er musste ohnehin ein paar Sachen einkaufen, rechtfertigte er seine eigenmächtigen Ermittlungen.
Nachdem Niklas das Haus verlassen hatte und zur Schule aufgebrochen war, zog Haie sich an und holte sein E-Bike aus dem Schuppen. Es war noch dunkel draußen zu dieser Jahreszeit und die nasskalte Luft machte Haie zu schaffen. Die Knochen schmerzten, er hatte nie gedacht, dass ihn das Wetter einmal so plagen würde. Aber wenigstens hatte sich der Ostwind gelegt.
In wenigen Minuten hatte er den Laden in der Dorfstraße erreicht. Die morgendliche Rushhour war beinahe vorbei, denn viele Leute aus dem Dorf hielten vor Arbeitsbeginn bei Helene, um schnell etwas einzukaufen. Er fragte sich, ob Tatjana das auch tat. Immerhin lag der Supermarkt auf ihrem Arbeitsweg.
Als er die Tür öffnete, strömte ihm ein Schwall warmer Luft entgegen, sodass augenblicklich seine Brille beschlug. Er schnappte sich einen Einkaufskorb und steuerte zunächst die Obst- und Gemüseauslage an.
»Bannig kold worn, was?« Meta Lorenz stand an der Waage und wog drei Bananen ab.
»Geiht«, entgegnete Haie.
»Na, ik wäre jetzt lieber irgendwo im Süden, aber in unserem Oller?« Meta Lorenz klebte das ausgedruckte Etikett auf die Bananen und verstaute sie im Einkaufswagen.
»Wat schall dat denn heißen?«
»Na, die jungen Lüüd jetsetten durch die Welt. Mal eben fürs Wochenende nach Mallorca – kein Problem. Aber unsereins?« Sie lächelte ihn an. »Dat ist nichts mehr für uns.«
Haie nickte. Er sah das ähnlich, wobei er auch in jungen Jahren selten verreist war – und schon gar nicht ins Ausland. Geträumt hatte er immer davon, getraut hatte er sich nicht. Fliegen, das war nichts für ihn. Der Mensch war keine Graugans, sagte er sich.
Tom hatte ihm bereits öfter angeboten, mit ihm und Niklas zusammen wegzufliegen, aber ehrlich gesagt, hatte Haie ein wenig Angst. Was da alles passieren konnte. Sah man doch ständig in den Nachrichten, abgestürzte Flugzeuge, Notlandungen. Nee,