Sandra Dünschede

Friesentod


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rüttelte an der Klinke. »Hm«, überlegte er. »Hat sie denn mal erzählt, ob sie Probleme hat?«

      Haie schüttelte den Kopf. »So eng war unser Verhältnis nicht. Wir sind lediglich Nachbarn.«

      »Und was für einen Eindruck hat die Frau sonst auf dich gemacht?«

      »Normal. Was soll sie für einen Eindruck gemacht haben?«

      »Na, vielleicht ist sie depressiv, also, wenn sie suizidgefährdet wäre …« Er warf Haie einen Blick über die Schulter zu.

      »Ausschließen kann ich das natürlich nicht. Man kann den Leuten ja immer nur bis vor den Kopf schauen.« Haie griente leicht.

      Thamsen nickte und überlegte. Seltsam war das Ganze schon. In der Vergangenheit hatte sein Freund oft recht gehabt mit seinen Vermutungen. Jedenfalls war nicht von der Hand zu weisen, dass das Verschwinden der Frau merkwürdig war.

      »Gut.« Er holte sein Handy aus der Jackentasche. Unter argwöhnischen Blicken Haies wählte er Ansgars Nummer und bat ihn, einen Schlüsseldienst zu ordern. Rolfs versprach, sich gleich darum zu kümmern. »Brauchst du denn Unterstützung?«

      »Habe ich schon.«

      5. Kapitel

      Etwa eine Stunde später fuhr der Wagen des Schlüsseldienstes auf die Auffahrt zu Tatjana Lieberknechts Haus. In der Zwischenzeit hatte Haie mit Dirk zu Hause einen Kaffee getrunken. Als er den Handwerker durch das Küchenfenster sah, sprang er auf.

      »Los, komm«, trieb er Thamsen an.

      Zum Glück fragte der Mann vom Schlüsseldienst nicht nach einem Beschluss, denn den hätte Thamsen ohnehin nicht bekommen. Wie er das Vorgehen gegenüber seinem Vorgesetzten rechtfertigen sollte, hatte er sich noch nicht überlegt. Schließlich war es gut möglich, dass gar nichts passiert war und Frau Lieberknecht sich über das Eindringen in ihr Haus beschweren, ihn gar anzeigen würde.

      »Hier ist ja eindeutig Gefahr im Verzug«, hatte Haie als Entschuldigung vorgebracht, während sie zum Nachbarhaus hinübergegangen waren.

      Mit nur wenigen Handgriffen und keine zwei Minuten später hatte der Mann vom Schlüsseldienst die Tür geöffnet. Thamsen unterschrieb die Quittung und der Mann verabschiedete sich.

      Haie trat im Eingang bereits ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, bis Dirk schließlich so weit war und die Tür ganz öffnete.

      »Hallo?«, erkundigte er sich, trat jedoch relativ schnell ins Haus ein. Er wies Haie an, hinter ihm zu bleiben, und arbeitete sich zunächst durch den Flur, in dem ihm nichts ungewöhnlich erschien. An der Garderobe hingen Jacken und Taschen, darunter standen auf einer Matte drei Paar Schuhe. Im Gegensatz zu seinem Zuhause, wo in jedem Raum Sachen von den Kindern herumlagen, sah es hier erstaunlich aufgeräumt aus.

      Vom Flur aus gelangte er direkt in die Küche. Haie folgte ihm. Auch hier fanden sie keinen Hinweis auf Tatjana Lieberknecht. Alles wirkte sauber und ordentlich. Lediglich das Obst, das in einer Schale auf dem Esstisch stand, war verdorben. Etliche Fruchtfliegen schwirrten um die Schüssel.

      Haie blickte sich neugierig um, während Thamsen weiter durch das Haus lief. Im Wohnzimmer und Bad sowie im Schlafzimmer ergab sich ein ähnliches Bild. Alles wirkte sehr aufgeräumt. Von Tatjana Lieberknecht keine Spur.

      »Wenn man verreist, lässt man doch das Obst nicht rumliegen. Ich habe eher den Eindruck, dass sie lediglich kurz fortgegangen ist und vorhatte, bald zurück zu sein«, versuchte Haie den vorgefundenen Zustand im Haus zu erklären.

      Thamsen musste dem Freund recht geben. Nach einer längeren Abwesenheit sah es hier nicht aus. Aber wo steckte Tatjana Lieberknecht?

      Niklas hatte sich mit seinem besten Freund Ole verabredet. Haie hatte ihm erlaubt, mit Ole direkt von der Schule nach Maasbüll zu fahren und bei seinem Freund zu Mittag zu essen.

      »Aber ihr macht Hausaufgaben«, hatte Haie gefordert. Niklas hatte artig genickt. Er hätte allem zugestimmt, was Haie gefordert hätte; wusste er doch, dass Oles Mutter kochte, was bei ihnen zu Hause selten oder gar nicht auf den Tisch kam. Haie achtete sehr auf die Ernährung des Jungen und kochte viel Gemüse. Niklas hingegen liebte – wie viele Kinder in seinem Alter – Pommes, Pizza und Chicken Nuggets. Lauter Sachen, die Haie geradezu verteufelte.

      Nach dem Fast-Food-Mittagessen machten sich die Jungen natürlich nicht an die Hausaufgaben, sondern spielten zunächst einmal mit der Playstation.

      Oles Mutter steckte den Kopf ins Zimmer, warf einen Blick auf den Bildschirm, auf dem lediglich ein altes Dorf zu sehen war, und nickte. »Schaltet ruhig erst einmal ein wenig ab«, sagte sie.

      Niklas und Ole grinsten und widmeten sich dem Spiel, in dem es darum ging, ein Dorf von der Herrschaft eines bösen Königs zu befreien und anschließend neu zu besiedeln. Niklas’ Figur kontrollierte gerade ein altes Haus, als Ole plötzlich sagte: »Hier in der Nähe gibt es auch so ein verlassenes Haus.«

      »Echt?«, fragte Niklas, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.

      »Ja, da hat wohl ein alter Mann drin gewohnt, und nun will das Haus keiner kaufen, weil er angeblich darin herumgeistert.«

      Niklas hielt inne und überlegte. »Das ist doch Quatsch«, gab er zurück.

      »Nee, ich habe selbst gehört, wie mein Vater darüber mit Harry Ingwers gesprochen hat. Ich glaube, die dachten, ich kriege das nicht mit. Hab ich aber doch.« Ole griente Niklas an.

      »Vielleicht haben die das aber auch nur erzählt, weil du dabei warst. Wollten dir bestimmt Angst machen.«

      »Ha, ich lass mir keine Angst machen.«

      »Warst du denn schon mal da?«

      Ole nickte.

      »Und?«

      Ole musste eingestehen, dass er zwar zu dem Haus gefahren war, sich jedoch nicht hineingetraut hatte.

      »Wieso nicht?«

      Ole zuckte mit den Schultern.

      »Du hast dich also nicht getraut. Hattest wohl doch Schiss.« Nun war es Niklas, der grinste.

      »Nee, aber …«

      »Aber was?« Niklas blickte Ole herausfordernd an. »Lass uns jetzt hinfahren und wir gehen da rein.«

      Kurz wies der Freund auf das Computerspiel, aber Niklas hatte schon die Pause-Taste gedrückt.

      »Bestimmt darf man das nicht«, versuchte Ole noch einen Rückzieher zu machen.

      »Aber wer soll das denn merken, wenn da keiner wohnt?« Niklas sprang auf und wartete auf den Freund, der sich nur langsam in Bewegung setzte.

      »Wir gehen ein wenig Fahrradfahren«, erklärte Ole seiner Mutter, die zustimmend nickte.

      »Zieht euch aber warm an, es ist kalt draußen.«

      Niklas lief schnell zu seinem Fahrrad. Er wartete, bis Ole sein Rad aus dem Schuppen geholt hatte und vorfuhr. Der Weg führte an der Wehle vorbei Richtung Bahndamm. Hier standen nur wenige Häuser und das alte verlassene Reetdachhaus wirkte seltsam in der Landschaft. Niklas fröstelte, als sie die Räder stoppten und zunächst vom Weg aus zum Haus hinübersahen.

      »Das ist es«, sagte Ole, obwohl es offensichtlich war, dass das besagte Haus sich vor ihnen befand.

      »Dann komm«, forderte Niklas den Freund auf. Er spürte eine Aufregung in sich, die ihn schwitzen ließ. Ungeduldig blickte er auf Ole.

      »Ich weiß nicht, lass uns lieber nach Hause fahren. Mir ist kalt und Hausaufgaben müssen wir auch noch machen.«

      Niklas traute seinen Ohren nicht. Was konnte aufregender sein als ein Haus, in dem ein Geist sein Unwesen trieb? Matheaufgaben ganz sicher nicht. Spukgeschichten übten auf ihn einen enormen Reiz aus. Er fand solche Geschichten zwar ein wenig angsteinflößend, aber dennoch zu spannend. Außerdem war helllichter Tag – Geister kamen doch erst in der Nacht, beruhigte er sich und schob das Rad die Auffahrt