aus der Form von Blutspritzern einen konkreten Handlungsablauf rekonstruieren konnten. Er wusste zwar nichts Näheres, aber es hatte ihn inspiriert. Und jetzt blieb ihm nur, dem Schupo böse hinterherzuschauen.
»Dann fragen wir mal die Leiche«, sagte Rosenbaum.
Sie gingen hinüber zu dem toten Mädchen. Gerlach zog pietätvoll das Tuch zurück und legte den toten, nassen Körper eines hübschen jungen Fräuleins frei, schwarzes Haar, weiße Haut, sittsames Tageskleid, ein wenig wie das schlafende Schneewittchen.
Rosenbaum drückte mit der linken Hand den Unterkiefer des Mädchens hinunter, steckte zwei Finger der rechten Hand tief in ihren Mund, zog sie wieder hinaus und wischte sie mit seinem Taschentuch trocken. So hatte er es sich bei Professor Ziemke, dem Kieler Gerichtsmediziner, abgeschaut. Der Luxus, dass ein Arzt am Tatort erschien, um seine ersten medizinischen Untersuchungen durchzuführen, so wie Rosenbaum es bei der Kieler Polizei eingeführt hatte und wie es in den letzten Jahren vor dem Krieg üblich gewesen war, dieser Luxus gehörte der Vergangenheit an. Die Zeiten waren schlecht, die Verbrechensrate hoch, das Personal der Gerichtsmedizin dezimiert, der Kommissar und sein Assistent mussten die meiste Tatortarbeit selbst erledigen.
»Noch warm«, sagte er. »Der Todeseintritt ist allenfalls ein bis zwei Stunden her.«
Er strich die Ärmel des Mädchens hoch, betrachtete die Handgelenke und die Arme, schob die Rüschen am Kragen zur Seite, betrachtete den Hals. Blaue Flecken und frische Abschürfungen waren zu finden, Kampfspuren und Würgemale.
»Gestoßen, nicht gefallen«, sagte er. »Aber warum schwamm sie nicht an Land?«
»Sie konnte vielleicht nicht schwimmen. Oder sie war vom Würgen bereits bewusstlos. Oder verlor das Bewusstsein durch den Kälteschock.«
»Zeugen?«
»Nur die beiden Lausbuben dort hinten, die haben sie gefunden.« Gerlach zeigte auf zwei Jungen, die verängstigt und kreidebleich am Rande der Uferböschung standen und von einem Wachtmeister am Fortlaufen gehindert wurden. »Sie dachten zunächst, ein Sack läge im Wasser, und warfen mit Steinen danach. Dann erkannten sie eine Hand. Sonst keine Zeugen.«
Xavier Kunz traf ein. Er stellte seinen Fotoapparat und die schwere Ausrüstung ab und begrüßte die beiden Ermittler. Kunz war früher Maler, Kunstmaler – er selbst sagte Kunzmaler – gewesen, hatte damit aber kaum etwas verdient. Anfangs pflegte er einen Stil, bei dem die Nasen nie zwischen den Augen saßen, sondern irgendwo anders am Körper, und als Nasen oft nur schwer zu erkennen waren. Das hatte natürlich tiefe Bedeutung, doch in Kiel konnte er damit nichts werden. In Berlin, Düsseldorf oder München ja, aber in Kiel sicher nicht. Dann verlegte er sich auf einen naturalistischen Stil und malte Wälder, Hirsche und Segelschiffe. Diese Werke konnte er zwar verkaufen, jedoch nur zu einem Spottpreis, weil seine Kundschaft nicht zahlungskräftig war. Wer in Kiel Geld hatte, fuhr nach Berlin, Düsseldorf oder München und kaufte Bilder mit Nasen, die man nicht erkennen konnte. Irgendwann gab er auf und suchte sich etwas anderes. Als nach dem Krieg die lange vakanten Stellen des Polizeifotografen und des Polizeizeichners neu ausgeschrieben wurden, war er der einzige Kandidat, der sich auf beide Stellen bewarb, ein für den Stadtkämmerer unerwartet glücklicher Umstand. Kunz wurde eingestellt. Was er zunächst verschwiegen hatte, war, dass ihm jede Erfahrung mit Fotoapparaten fehlte. Bei seinen ersten Polizeifotos waren die Motive oft nahezu schwarz oder fast weiß, oder die Nasen saßen oft nicht zwischen den Augen, ganz so wie bei seinen früheren Gemälden, nun jedoch nicht gewollt, sondern wegen unbeabsichtigter Unter-, Über- oder Doppelbelichtung. Doch Kunz konnte die missglückten Fotos durch gelungene Zeichnungen ersetzen und so seine Anstellung retten – nicht zuletzt wegen der Fürsprache des Kämmerers. Inzwischen war er in der Lage, zuverlässig brauchbare Fotografien anzufertigen. Die Ermittler gingen zur Seite und ließen ihn seine Arbeit machen.
Rosenbaum schaute zu den beiden Lausbuben hinauf. Hinter ihnen stießen die Fährstraße, die Bergstraße, der Lorentzendamm und der Martensdamm aufeinander. Rechts lag die »Ki-Spa-Leih-Ka«, wie die Einheimischen mundfaul ihre Kieler Spar- und Leihkasse nannten, vis-à-vis das Oberlandesgericht, links dahinter das Kaiserliche Kanalamt, an dessen Eingangsportal das »Kaiserliche« schamhaft überklebt worden war, obwohl eine Umbenennung offiziell noch gar nicht stattgefunden hatte und auch der Kaiser-Wilhelm-Kanal – der einzige Grund für die Einrichtung des Kanalamtes – noch immer Kaiser-Wilhelm-Kanal hieß. Hier war eine durchaus belebte Gegend, und niemand sollte etwas gesehen und keine Hilferufe gehört haben? Jetzt war es sieben Uhr abends, bereits dunkel, aber zur Tatzeit musste es noch hell gewesen sein, und niemand hatte etwas mitbekommen?
»Wissen wir, wer sie ist?«
»Das hier hatte sie bei sich.« Gerlach hob eine Handtasche auf, die neben der Leiche lag. »Da ist eine Wohnbescheinigung des Oberlyzeums drin.«
»Das Lehrerinnenseminar? Das ist doch hier irgendwo in der Nähe.«
»Gleich dahinten, am Blocksberg, keine fünfhundert Meter von hier.«
Sie winkten einen der verblieben Wachtmeister, die in vorsichtiger Entfernung um sie herumstanden, zu sich, trugen ihm auf, die Leiche zur Gerichtsmedizin transportieren zu lassen, und machten sich zu Fuß auf den Weg zum Oberlyzeum.
Seit einem Jahr durften die Frauen an politischen Wahlen teilnehmen und ihre Stimmen wurden sogar mitgezählt. Etliche Jahre früher, 1908, noch tief im Kaiserreich, hatte es sogar bereits eine Gesetzesreform gegeben, nach der Knaben- und Mädchenschulen prinzipiell gleichgestellt worden sind.
Für Jungen gab es seit Längerem neben den Gymnasien auch Realgymnasien und Oberrealschulen. Sie alle schlossen mit dem Abitur ab, das zu einem Hochschulstudium berechtigte. Diese Schulformen unterschieden sich nur darin, ob der Fächerschwerpunkt im altsprachlichen, neusprachlichen oder naturwissenschaftlichen Bereich lag. Es galt: Je gymnasialer die Schule, desto angesehener die Ausbildung und desto schlechter das Englisch. Für die höhere Ausbildung der Mädchen gab es das Lyzeum, früher Höhere Töchterschule genannt, und das Oberlyzeum, früher Höheres Lehrerinnenseminar genannt. Der Abschluss war das Abitur, aber das Studium an einer deutschen Universität war für die Abiturientinnen nicht ohne Weiteres möglich. Sie mussten entweder im Ausland studieren oder eine zusätzliche Prüfung an einem deutschen Gymnasium für Knaben ablegen.
Die praktische Umsetzung der Gleichstellung scheiterte bislang im Wesentlichen an der geistigen Flexibilität der hierzu berufenen Ministerialbeamten und der pädagogischen Elite des Reiches. Zwar kannten diese Leute die Bedeutung der Wörter, die sie im neuen Schulgesetz fanden, und sie beherrschten die Grammatik, sie in sinnvoller Weise zu interpretieren. Indes hinderte sie ihr für naturgesetzlich angesehenes Weltbild daran, konsequente Folgerungen aus dem Gelesenen zu ziehen.
»Die Frau kann und soll im öffentlichen Leben die Gehilfin des Mannes, nie seine Herrin sein; bei uns in Deutschland geht es gegen die Manneswürde und Mannesehre, amtlich unter Frauen zu dienen«, fauchte Professor Manzei Gerlach an, als dieser sich erdreistet hatte zu fragen, warum eigentlich er, also ein Herr, und nicht eine Dame Direktor des Oberlyzeums sei, wo es doch um die Ausbildung von jungen Damen gehe.
Gerlach schaute den Direktor verdutzt an, Rosenbaum räusperte sich und der Direktor hüstelte ein wenig, als sei er um seines politisch nicht mehr korrekten Ausbruchs verlegen.
»Da haben Sie sicherlich recht«, sagte Rosenbaum. »Ich würde jetzt aber gerne auf Ihre Schülerin zu sprechen kommen.«
»Ich kenne diese Person gar nicht persönlich, und die Lehrkräfte sind heute nicht mehr im Haus. Sie müssten vorläufig mit der Hausdame des Pensionats sprechen.« Dann brüllte der Direktor ins Vorzimmer: »Fräulein Meyer!« Als Fräulein Meyer unterwürfig in der Tür erschien: »Führen Sie die Herren zu Fräulein Gosch-Fassbinder.« Und schließlich wieder an die Kriminalbeamten gerichtet: »Guten Tag, meine Herren. Unterrichten Sie mich, wenn Sie den Fall gelöst haben.«
»Sicher nicht«, murmelte Gerlach beim Hinausgehen und Rosenbaum nickte dem Direktor zum Abschied höflich zu.
Das Oberlyzeum teilte sich das Gebäude am Blocksberg, einem gelungenen Beispiel preußischer Kasernenarchitektur, mit dem Lyzeum I. Im hinteren Trakt des linken Flügels war für beide Lehranstalten