Tutsi aus Ruanda, ein großer Mann und ein stolzer Krieger, ein Effendi.
»Du musst gehorchen«, hatte er zu ihm gesagt, als er gerade vier Jahre alt geworden war. Nur wenige Tage später hatte er nicht gehorcht. Der Vater rief nach ihm, dass er zum Essen kommen sollte, aber er kam nicht. Er blieb draußen bei den Tieren. Die Ziege hatte in der Nacht zwei Kitze geworfen, die noch kein Fell besaßen und seinen Schutz brauchten. Der Vater rief noch einmal und noch einmal. Dann rannte er donnernd aus dem Haus, der große, starke Mann, während der kleine Hashim sich im Stall versteckte. Der Vater brüllte, warf mit Eimern und Knüppeln um sich, der Junge kauerte in einer Kiste und kämpfte gegen einen Panikanfall. Würde der Vater ihn jetzt finden, schlüge er ihn zu Tode. Selbst lange nachdem der Vater wieder weg war, traute sich der Sohn nicht aus der Kiste. Erst spät in der Nacht wagte er es, und nur, weil er vor Durst fast umkam. Er öffnete behutsam den Deckel und stieg hinaus, so langsam, dass er es selbst nicht hören konnte. Er schlich zur Wassertonne und hob den Deckel an, ohne jedes Geräusch. Dann spürte er jemanden hinter sich. Es war der Vater mit einem Stock aus Bambusrohr.
»Du hast die Wahl«, sagte er. »Wüste oder Schläge.«
Der Junge wählte die Schläge.
»Das nächste Mal, wenn du nicht gehorchst, musst du in die Wüste. Wie die Herero, drüben in Deutsch-Südwestafrika. Die haben auch nicht gehorcht.«
Die Herero seien Buschneger, hatte der Vater gesagt. Den Ausdruck hatte er sich nicht ausgedacht. So nannten alle Askaris und alle weißen Soldaten voller Verachtung die Schwarzen, die nicht Askaris waren. In dieser Nacht starben die beiden Kitze.
Sergeant Hashim marschierte durch den leeren Korridor im ersten Stock der Alten Station, seine Schritte hallten wie in einem Konzertsaal. Der Generalmajor hatte ihn angerufen und angekündigt, dass es heute Nacht losgehen werde. Er solle sich jetzt um Kapitän Looff kümmern. Der sei ein wankelmütiger Geselle, auf den müsse man achtgeben.
Max Looff war Stadtkommandant von Kiel und in dieser Funktion Mitglied im Kommandostab der Marinestation. Möglicherweise hatte er Einfluss auf den Stationschef, er musste unter Kontrolle gebracht werden.
Lettow-Vorbeck kannte ihn gut und traute ihm deswegen nicht über den Weg. Auch Hashim kannte ihn. Vor Ausbruch des Weltkrieges hatte Looff das Kommando über den Kleinen Kreuzer SMS Königsberg erhalten und war damit nach Deutsch-Ostafrika gefahren. Kurz darauf hatte er sein Schiff im Indischen Ozean verloren und sich anschließend mit seiner Mannschaft nach Deutsch-Ostafrika durchgeschlagen, um sich der Schutztruppe unter Lettow-Vorbeck anzuschließen. Zwischen diesen beiden Alphatieren war es immer wieder zu Rivalitäten gekommen. Ständig hatte Looff von Rücksicht und Zumutbarkeit und all dem humanistischen Humbug geredet und damit notwendige Anordnungen infrage gestellt, bis er ein Jahr vor Kriegsende in britische Kriegsgefangenschaft geraten war. Er musste unter Kontrolle gebracht werden.
Hashim klopfte an Looffs Tür und wurde hereingerufen. Ein letztes Mal tief durchatmen und dann in den Kampf. Es war seine Pflicht, und es half beim Vergessen.
»Sergeant Mahjub bin Hashim«, sagte er stramm und grüßte ordnungsgemäß. »Zu Ihrer Verfügung gestellt, Herr Kapitän.«
Looff schaute von seinem Schreibtisch auf und runzelte nachdenklich die Stirn. »Hashim? Ich kenne Sie doch …«
»Von der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, Herr Kapitän.«
»Stimmt.« Ein sanftes Lächeln zog sich um Looffs Mund. »Und jetzt sind Sie in Deutschland?«
»Ich hatte nur die Alternativen, Buschneger zu werden oder in die britischen Kolonialtruppen einzutreten. Da bin ich lieber mit der Truppe nach Deutschland gekommen.«
»Sehr gut, sehr gut, löblich, löblich.« Looff schaute den Sergeanten jovial an. Wohlwollend, gönnerhaft, etwas von oben herab, so hatte Hashim ihn in Erinnerung. »Und jetzt wollen Sie sich mir zur Verfügung stellen?«
»Ich unterstehe dem Verbindungsoffizier der Reichswehr-Brigade 9 und bin zur vertraulichen Kommunikation mit der Stadtkommandantur abgestellt.«
»Vertrauliche Kommunikation mit der Brigade von Lettow-Vorbeck?« Looff lehnte sich erwartungsvoll in seinen Sessel zurück. »Das hört sich ja verwegen an.«
Vertraulichkeit war nach Hashims gefestigter Einschätzung nie die Stärke von Kapitän Looff gewesen. Er hatte einmal zu Lettow-Vorbeck gesagt, dass jedes Handeln erhaben sein müsse, sodass es besonderer Verschwiegenheit nicht bedürfe. Für Hashim war Looffs Erhabenheit nichts anderes als Geschwätzigkeit.
»Herr Kapitän, wir sind darüber informiert worden, dass der Reichspräsident beabsichtigt, noch heute Nacht das Kabinett umzubilden. Reichskanzler Bauer soll abgesetzt und Generallandschaftsdirektor Kapp zum neuen Kanzler berufen werden.«
»Kapp? Ist das nicht dieser Kerl von den Deutschnationalen?«
»Nationale Vereinigung, soweit ich weiß, Herr Kapitän.«
»Und der SPD-Mann Ebert setzt den SPD-Mann Bauer ab, um statt seiner einen Antirepublikaner zu berufen? Hat der getrunken?«
»Es scheint ein politischer Kompromiss ausgearbeitet worden zu sein.«
»Und jetzt?«
»Das Truppenamt und die Heeresleitung weisen die örtlichen Militärbefehlshaber an, ihre Einheiten ab morgen Früh in Bereitschaft zu halten. Es wird befürchtet, dass die Rotfront die Kabinettsumbildung zum Anlass nimmt, einen kommunistischen Aufstand anzuzetteln.«
»Und das erfahre ich jetzt von Ihnen? Von einem Sergeanten?«
»Für die frühen Morgenstunden ist eine fernmündliche Bestätigung aus Berlin avisiert. Ich soll dies nur vorab ankündigen. Und mich zu Ihrer Verfügung halten.«
Alles gelogen.
Warum Hashim das tat? Weil es seine Pflicht war. Ob er es gerne tat? Natürlich.
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