Kay Jacobs

Kieler Courage


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durch!«

      »Generalmajor von«, rhetorische Pause, »Lettow-Vorbeck ist nicht zu sprechen.«

      »Wenn Sie mich nicht augenblicklich verbinden, lasse ich Herrn Lettow-Vorbeck zur Vernehmung vorführen!«

      »Ja, machen Sie das.«

      Rosenbaum war kurz davor, Wörter zu benutzen, für die er durchaus belangt werden könnte. Natürlich hatte er nicht die Befugnis, den Militärbefehlshaber von Mecklenburg und Holstein vorführen zu lassen, aber die Chuzpe dieses Vorzimmer-Leutnants brachte ihn aus der Fassung. Um zu vermeiden, was er später bereuen würde, reichte er den Hörer an Gerlach weiter, dessen Bemühungen zwar wesentlich diplomatischer, aber genauso erfolglos waren. Seine Versuche zu erklären, dass die Leiche dringend untersucht werden müsse – das liege doch auch im Interesse des Herrn Generalmajor – und dann so schnell wie möglich zur Bestattung freigegeben werde – Ehrenwort –, halfen nicht weiter als der Hinweis, dass sich die Leiche im Gewahrsam der Strafverfolgungsbehörden befunden habe, als sie bei der Gerichtsmedizin gelegen hatte, und ihr Abtransport einen rechtswidrigen Gewahrsamsbruch darstelle. All das führte nicht weiter als zu der Empfehlung, eine schriftliche Eingabe zu verfassen, man werde sich zu gegebener Zeit damit befassen.

      Im Hintergrund tobte der Kommissar und presste Wörter, die er nicht benutzen sollte, durch gefletschte, zusammengebissene Zähne. Gerlach zog es vor, das Telefonat zu beenden.

      »Der hängt noch in seinem preußischen Militärstaat fest«, schimpfte Rosenbaum, ohne sich zügeln zu müssen. »Wir sind jetzt Bürger und keine Untertanen mehr, das hätten Sie diesem Betonkopf mal sagen sollen!«

      Seine Zigarette war unbeachtet im Aschenbecher runtergebrannt, der halb voll noch vom Vortag auf dem Schreibtisch stand. Das wäre früher auch nicht passiert.

      »Ich fahr da jetzt hin und sage dem das – und hol die Leiche zurück.«

      »Ne, besser ich fahre, Chef. Sie würden nur eine Schlägerei auslösen.«

      Rosenbaum ließ Gerlach fahren, zuerst widerwillig, sich der Einsicht in das Erforderliche fügend, dann war er ganz zufrieden mit dieser Entscheidung. Er besorgte sich eine Tasse Kaffee, schwarz und ohne Zucker, den er sich mühsam aus der Kantine im Souterrain holen musste, seit er mit Hedis Abgang nicht mehr frisch im Vorzimmer gebrüht wurde. Eine neue Packung Zigaretten nahm er gleich mit und wechselte mit dem Kollegen Dumrath am Tresen einige belanglose Worte über das Wetter und dass es jetzt in Deutschland bestimmt bald wieder aufwärtsgehen werde; mit Dumrath konnte man sowieso nur Belanglosigkeiten austauschen. In seinem Vorzimmer schaute er sich die Eingangspost an, ein paar Berichte und Protokolle, neue Akten von der blauen Polizei mit Strafanzeigen, alte Akten von der Staatsanwaltschaft mit Einstellungsverfügungen und Vernehmungsanordnungen, nichts Dringliches. Er schob alles zur Seite, für die kommende Woche war eine neue Sekretärin angekündigt.

      Zurück in seinem Büro setzte er sich in den Schreibtischsessel, lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Kaffee. An der Wand gegenüber hing eine Schiefertafel. Sie hatte dort vor einiger Zeit ein Porträt des Kaisers abgelöst. Seit Unterzeichnung des Friedensvertrages war Wilhelm II. offiziell ein Kriegsverbrecher, gesiegelt und gestempelt, anerkannt von der Reichsregierung, nach Rosenbaums Überzeugung ein schwerer strategischer Fehler. Seither gab es in deutschen Amtsstuben kein Porträt des Kaisers mehr, sie hingen jetzt nur noch in Wohnzimmern. Rosenbaum hatte den Kaiser freilich schon Jahre zuvor abgehängt. Einige Zeit hing allein die Schiefertafel an der Wand. Dann kam ein Porträt vom Reichspräsidenten Ebert hinzu, aber nur kurz. Jetzt war die Tafel wieder allein, und Ebert stand in der Ecke, mit dem Gesicht zur Wand, er musste sich schämen.

      Auf die Tafel hatte Rosenbaum mit weißer Kreide »Katharina« geschrieben und rechts daneben »Mona«. Er stand auf, fügte »PvLV« hinzu und setzte sich wieder.

      »Ach, Sie sind da?« Die Stimme von Iago Schulz ertönte im selben Moment, in dem sich die Tür öffnete.

      »Ja, natürlich.«

      »Hm.«

      Wie Rosenbaum war Schulz einer von derzeit sechs Kommissaren der Kieler Blume. Ein Kollege, aber kein Freund. Und er würde auch niemals ein Freund werden. Zu deutlich hatte Schulz von Anfang an klargemacht, dass er Rosenbaum für einen jüdischen Kommunisten, also einen Volksschädling hielt. Und zu eindeutig war es für Rosenbaum, dass er Menschen verachtete, die in solchen Kategorien überhaupt dachten. Schulz hatte sich zur PP, der Politischen Polizei, gemeldet, einer größtenteils geheim agierenden Sondereinheit der Berliner Polizei, deren hiesiger Ableger zunächst nur organisatorisch dem Kieler Polizeipräsidenten, im Übrigen aber Berlin unterstellt war. Nach dem Krieg waren die Kompetenzen der Berliner Polizei beschnitten worden, und seither unterstand die Kieler PP dem Kieler Polizeichef. Doch ob das eine endgültige Regelung war, durfte bezweifelt werden, in diesen Zeiten war kaum etwas endgültig. Der Ruf der PP ließ das Schlimmste vermuten, entsprach aber nach Rosenbaums Überzeugung der Realität, auch wenn niemand es wegen deren Geheimniskrämerei so genau wissen konnte. Für Rosenbaum war klar, dass Schulz mit seiner völkischen Gesinnung und seinem intriganten, miesen Charakter bestens in diese Truppe hineinpasste. Sie waren anfangs erbitterte Feinde gewesen, und doch waren sie Kollegen. Ein wenig hatte sich ihr Verhältnis gebessert, als Schulz Rosenbaum einmal das Leben gerettet hatte. Aber Freunde würden sie nie werden. Und Rosenbaum würde Schulz nie über den Weg trauen. Und dass er ihm das Leben gerettet hatte, war kein Akt des Mitgefühls gewesen, sondern hatte mit Sicherheit einen eigennützigen Beweggrund gehabt. Rosenbaum wusste nur noch nicht, welchen.

      Letztmalig waren sie aneinandergeraten, als vor einem halben Jahr Kriminaldirektor Freibier in den Ruhestand gegangen war. Schulz hatte sich als dessen Nachfolger beworben, und Rosenbaum hatte dasselbe getan, allein damit Schulz nicht sein Vorgesetzter werden würde. Natürlich hatte Rosenbaum als SPD-Mitglied hervorragende Aussichten gehabt, während Schulz als bekanntermaßen rechtskonservativer Revanchist – und mutmaßlich Schlimmeres – kaum eine Chance besaß, zum Direktor befördert zu werden. Bekommen hatten sie den Posten am Ende beide nicht. Er war von auswärts besetzt worden. Ihr neuer Chef war jetzt Kriminaldirektor Friedrich Klemp aus Lübeck, natürlich SPD-Mann. Mehr hatte Rosenbaum im Grunde nicht gewollt.

      »Ich habe ein Vernehmungsprotokoll für Sie«, sagte er und legte einige sauber in Maschinenschrift getippte Blätter vor ihm auf den Tisch.

      »Was für ein Vernehmungsprotokoll?«

      »Ein Zeuge hat sich gemeldet. In Ihrem Mordfall. Peter Harald Bäcker heißt der Mann«, erklärte Schulz, während Rosenbaum durch das Protokoll blätterte. »Er hat heute Morgen in der Zeitung von dem Mord gelesen und sich sofort bei uns gemeldet. Er sagt, er habe am Tattag gegen vier Uhr nachmittags ein Fräulein mit einem jungen Mann vor dem Holzsteg am Kleinen Kiel gesehen. Sie hätten gestritten. Der Zeuge habe sich aber nichts weiter dabei gedacht und sei seines Weges gegangen.«

      »›Ohrfeige gegeben‹, ›an den Armen gefasst und geschüttelt‹, ›Hurensohn gerufen‹«, zitierte Rosenbaum aus dem Protokoll. »Und dabei hat er sich nichts gedacht?«

      »Tja«, kommentierte Schulz.

      Das letzte Blatt des Protokolls enthielt eine Phantomzeichnung.

      »Was ist denn das?«, fragte Rosenbaum.

      Auf der Zeichnung war die rechte Gesichtshälfte eingefallen – es schien, als fehlte der Wangenknochen –, Narben zogen sich vom Auge bis zum Unterkiefer und klebten Hautfetzen aneinander.

      »Eine Kriegsverletzung, würde ich sagen«, antwortete Schulz in einem Tonfall, der sagte: Das sieht man doch.

      Rosenbaum legte die Blätter auf den Tisch und schaute Schulz mit einem Blick an, der verriet, dass ihm das alles nicht passte. »Wieso haben Sie ihn nicht an mich verwiesen?«

      »Sie waren nicht da. Hätte ich den Mann wieder gehen lassen sollen?«

      »Natürlich war ich da.« Natürlich war er da, er war nur eine halbe Stunde in der Kantine gewesen. »Ich war nur ein paar Minuten in der Kantine.«

      Schulz nickte.

      Rosenbaum bedankte sich in einem Tonfall, der keinen Zweifel