Kay Jacobs

Kieler Courage


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in die Zeitungen. Mit der Kriegsverletzung war sie charakteristisch genug, um auf zweckdienliche Hinweise hoffen zu lassen. Rosenbaum setzte sich an die Schreibmaschine im Vorzimmer, eine Adler No. 7, ein Gerät, mit dem er sich nie anfreunden würde. Es gab fünf Tageszeitungen in Kiel, er konnte sich aber auf die drei größten beschränken, die konservativen Kieler Neuesten Nachrichten, die liberale Kieler Zeitung und die linksgerichtete Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, mehr als zwei Durchschriften mit Kohlepapier wären sowieso kaum zu entziffern gewesen. Als das Papier eingespannt war und Rosenbaum seine schwarzen Fingerspitzen in seinem Taschentuch wieder einigermaßen sauber bekommen hatte, musste er sich mit den vollkommen sinnlos angeordneten Tasten auseinandersetzen, mit dem Q oben links, dem H in der Mitte und dem M unten rechts. Er wollte es demütig als gegeben hinnehmen und darüber nicht nachdenken, er wollte einen Wutausbruch vermeiden. Schon bei »An die Schriftleitungen der Kieler Neuesten« hat er sich zweimal verschrieben. Beim zweiten Papiersatz kam er etwas weiter, beim dritten beschloss er, bis zu drei Tippfehler hinzunehmen und handschriftlich zu korrigieren, beim vierten Tippfehler beschloss er, vier hinzunehmen. Der Papiervorrat war fast aufgebraucht, als er nach einer Stunde das Anschreiben fertiggestellt hatte, versehen mit etlichen handschriftlichen Korrekturen. Seine Ansprüche waren immer weiter gesunken. Wäre nur Hedi da gewesen.

      Er unterzeichnete, übergab die Schreiben in der Wachtmeisterei dem Polizeiboten und zog sich wieder in sein Zimmer zurück, wo er staunend feststellte, dass er eine Stunde nicht geraucht hatte. Dann steckte er sich eine an. Auf seinem Schreibtisch rückte er die Fotografie von Albert, seinem Sohn, zurecht. Aus den letzten Jahren besaß er von ihm nur zwei Porträts. Eines, das ihn als stolzen Notabiturienten zeigte, und eines, auf dem er kurz danach eine Infanterieuniform trug. Das als Abiturient stand auf dem Schreibtisch. Es war ursprünglich koloriert gewesen, Rosenbaum hatte sich aber ein neues Exemplar in schwarz-weiß anfertigen lassen. Das mit der Uniform war in der Schublade verschwunden, neben dem Foto von Alberts Grab.

      *

      Auch wenn man es kaum glauben mochte, Mecklenburg-Schwerin war ein selbstständiger deutscher Bundesstaat, zuerst Herzogtum, seit einem Jahr Freistaat, doch stets widerstand es wie ein kleines gallisches Dorf wacker fremden Annexionsbestrebungen. Die Schleswig-Holsteiner hätten es nie zugegeben, aber es schwang eine bedeutende Portion Neid mit, wenn sie auf Mecklenburg schauten. Nach dem gewonnenen Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 hatten sie auf eine Schleswig-Holsteinische Selbstständigkeit gehofft, waren aber zwei Jahre später von Preußen geschluckt und zu einer bloßen Provinz degradiert worden, während Mecklenburg-Schwerin selbstständig geblieben war.

      Und das hatte Auswirkungen, wenn man von Kiel nach Schwerin reisen wollte. Hier herrschte die Preußische Staatsbahn, dort noch immer die Mecklenburgische Landeseisenbahn; die von der neuen Staatsverfassung vorgeschriebene Gründung der Reichsbahn, die alle Landesbahnen in sich vereinigen sollte, war erst für den 1. April vorgesehen. Also gab es noch keine direkte Zugverbindung, nicht einmal aufeinander abgestimmte Fahrpläne. Im Kieler Hauptbahnhof wartete eine Preußische S5 mit modernen Durchgangs­waggons, um die Reisenden mit hundert Stundenkilometern zum Grenzbahnhof in Lübeck zu bringen, wo sie – manchmal unabsehbar lange – auf eine Mecklenburgische T4 warten mussten, um in alten Abteilwagen mit fünfzig Stundenkilometern nach einem weiteren Umstieg in Bad Kleinen irgendwann Schwerin zu erreichen.

      Und genau diese Strapaze musste Klaus Gerlach jetzt auf sich nehmen. Den längsten Aufenthalt hatte er in Bad Kleinen, wo das Empfangsgebäude unbeheizt und die Bahnhofsgaststätte geschlossen waren. Darüber hinaus hatte der Kiosk keine belegten Brote mehr anzubieten. Der Kriminalassistent wartete auf einer Bank, schaute in kurzen Abständen auf seine Uhr und hatte nicht einmal mehr die Ablenkung einer am Fenster vorbeiziehenden Vorfrühlings-Landschaft. Erst diese Zeit der Muße brachte ihn auf die Frage, wie er eigentlich die Leiche nach Kiel zurückbringen sollte, falls ihm diese mitgegeben werden würde.

      Als er endlich Schwerin erreichte, war es bereits dunkel. Gegenüber vom Bahnhof betrat er ein Hotel, wo er sich ein Zimmer nahm und eine Kleinigkeit essen konnte. Dann wurde er vom Portier mit einer Wegbeschreibung ausgestattet und eilte zu Fuß zum Arsenal am Pfaffenteich, in dem die Reichswehr-Brigade 9 Quartier bezogen hatte. Der Portier hatte ihn telefonisch angekündigt, so wurde er bereits erwartet und ohne größere Umstände ins Vorzimmer des Kommandanten geführt. Dort allerdings musste er wieder warten, dieser Raum war allerdings geheizt und der Ausblick auf den Pfaffenteich war idyllisch. Doch gleich würde er dem »Löwen von Afrika« gegenüberstehen, dem Mann, der zu wichtig oder zu beschäftigt war, um mit der Polizei über die Leiche seiner Tochter zu telefonieren. Gerlach würde ihn nicht nur um Rückführung bitten, sondern auch sachdienliche Fragen klären wollen. Ob dieser Generalmajor sich dazu bewegen lassen würde, die Leiche zurückzugeben, war für den Kriminalassistenten kaum abzuschätzen, aber die Chance, an einige aufschlussreiche Informationen zu gelangen, sollte groß sein. Natürlich gehörte es zur Taktik des Kommandeurs, Gerlach warten zu lassen, er sollte nervös werden. Das war ihm bewusst, aber darauf würde er nicht hereinfallen. Im Krieg war er Meldegänger, später Meldeoffizier gewesen, er war den Umgang mit Generälen gewohnt, deren Taktik war ihm bekannt. Aber blümerant wurde ihm trotzdem.

      Nach einer halben Stunde ließ man ihn vor. Er betrat ein üppiges, barockes Arbeitszimmer. Schreibtisch, Bücherschrank, eine kleine und eine große Kommode waren aufeinander abgestimmt in Kirsche und Wurzelnuss gefertigt und aufwendig mit matt goldenen und schwarzen Applikationen und verspielten Bronzebeschlägen versehen. In der einen Zimmerecke thronten stolze Regimentsfahnen, in der anderen hing die alte Reichskriegsflagge an einer Fahnenstange und verdeckte die neue schwarz-rot-goldene Nationalflagge. Dazwischen hing ein Porträt von Friedrich Ebert, dem Reichspräsidenten, nicht sehr groß und im Stil der neuen Zeit in einem schlichten, schmalen, fast schäbigen Rahmen. – Ebert war Handwerkersohn, ein solcher Rahmen musste nach überwiegender Ansicht bürgerlicher Kreise für ihn reichen. – Ein heller Streifen in der Holzvertäfelung hinter dem Bild bezeugte, dass bis vor Kurzem noch ein größeres, sicherlich prunkvolleres Porträt des Kaisers oder Bismarcks, vielleicht Hindenburgs hier gehangen haben mag. Darunter saß Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck hinter seinem Schreibtisch in einer Uniform, die nicht wagte, Falten zu werfen. Der Schädel war glatt rasiert, der Bartwuchs zu einem dichten Schnurrbart vereint. Sein Gesicht brachte es fertig, zugleich rundlich zu sein und asketisch zu wirken. Seine strengen Augen verrieten, dass er sich die Einrichtung seines Zimmers nicht ausgesucht hatte und mit einem Schreibtisch aus Sperrholz zufrieden gewesen wäre.

      Gerlach stellte sich vor. Lettow-Vorbeck gab seinem Bedauern Ausdruck, dass, wie ihm zu Ohren gekommen sei, Gerlach telefonisch nicht zu ihm habe durchdringen können. Dann bot er ihm den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch an, und der Kriminalassistent kam gleich zur Sache.

      »Mord?« Ein verblüffter Ausdruck legte sich über das Gesicht des Generalmajors. Es war, als hätte Gerlach einen Kollegen mit einer gewagten These konfrontiert, als sei vielleicht nicht undenkbar, aber ziemlich weit hergeholt, was gerade erklärt worden war. »Nach meiner Kenntnis ist sie ins Wasser gefallen und ertrunken.«

      »Es gibt da ein paar Ungereimtheiten, die die Annahme eines Fremdverschuldens nahelegen.«

      »Nämlich?«

      Gerlach zögerte kurz. Die Polizei teilte Zeugen ihren Ermittlungsstand normalerweise nicht mit. Doch die Situation war besonders. Also schilderte er schließlich im Detail, was die Polizei von dem Vorfall wusste.

      »Haben Sie Ihrer Tochter kürzlich hundert Mark geschickt?«, fragte er.

      »Meine Frau vielleicht. Ich kümmere mich um so etwas nicht.«

      »Sie oder Ihre Frau sollen Katharina regelmäßig jeden Monat hundert Mark Taschengeld zugeschickt haben.«

      »Das ist möglich. Wenn man von einer Regelmäßigkeit überhaupt sprechen kann, immerhin ist sie erst vor ein paar Wochen von zu Hause ausgezogen.«

      »Konnte Ihre Tochter schwimmen?«

      »Ja, natürlich.«

      »Noch eine Ungereimtheit.«

      »Und welche Schlüsse ziehen Sie daraus?«

      »Zunächst nur, dass die Leiche obduziert werden muss.«

      »Etwas