Kay Jacobs

Kieler Courage


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dem Burschen verließ auch die Aufregung das Zimmer. Gerlach wischte ein paar Tropfen Tee von seinem Stuhl und setzte sich wieder.

      »Diese tumben Bauernlümmel, zum Dienst an der Waffe für zu blöd befunden. Oft bleibt dann nur der Aufwartungsdienst, und dabei terrorisieren sie einen bis ins Mark«, sagte der Generalmajor halb empört, halb belustigt. »Aber was soll man mit ihnen machen? Wenn Sie denen ein Gewehr in die Hand drücken, wird es wirklich gefährlich.« Dann entschuldigte er sich für die Ungeschicklichkeit seines Burschen. »Vorher hatte ich einen Neger, einen ehemaligen Askari. Der war sehr begabt und sehr intelligent. Ich habe ihn jetzt mit anspruchsvolleren Aufgaben betraut, und das war wohl ein Fehler.«

      »Ein Askari?«

      »Ja, ein Neger-Soldat. Ein treuer Kerl, er hat tapfer in Afrika gekämpft und ist nach dem Krieg mit mir nach Deutschland gekommen. Sie wissen doch, dass ich viele Jahre in Afrika Dienst getan habe?«

      »Natürlich, das weiß ich. Sie waren als Kompaniechef an der Niederschlagung des Herero-Aufstandes beteiligt und haben später als Kommandeur der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika gegen die Alliierten gekämpft.«

      »Wir waren sehr erfolgreich, sehr erfolgreich. Bis zum letzten Tag haben wir gegen eine vielfache Übermacht der Briten, Belgier und Südafrikaner standgehalten, und wir hätten bis heute weitergemacht, wenn nicht der Frieden dazwischengekommen wäre. Das haben wir aber nicht allein den wenigen deutschen Offizieren zu verdanken, sondern in erster Linie den tapferen Askaris. Da waren ganz außergewöhnlich fähige Leute darunter, hochintelligent, mutig und mit einer besonderen strategischen Begabung ausgestattet. Ohne sie hätten wir niemals dauerhaft der feindlichen Übermacht standhalten können.«

      Ein Offizier kam herein und unterbrach Lettow-Vorbecks Schwärmereien. Er trug einen Meldeanzug mit Adjutantenschnur, offenbar der Oberleutnant, nach dem Lettow-Vorbeck geschickt hatte. Als er sprach, erkannte Gerlach die Stimme des Mannes wieder, mit dem er gestern telefoniert hatte. Gerlach würdigte ihn keines Wortes.

      »Machen Sie das hier mal weg«, wies der Generalmajor ihn an. »Und beschaffen Sie mir einen anderen Burschen.«

      Der Adjutant kniete vor dem Kriminalassistenten nieder und sammelte das Geschirr auf. Dann verschwand er, kam mit Schmutzschaufel und Handfeger zurück und kehrte so gut es ging die Zuckermasse auf. Gerlach machte keine Anstalten, ihm zu helfen.

      Auch Lettow-Vorbeck beachtete seinen Oberleutnant nicht weiter und wandte sich wieder Gerlach zu. »Leider sind nur sehr wenige Askaris mit nach Deutschland gekommen. Ich habe es allen angeboten, aber kaum einer wollte.«

      »Vielleicht wollten erprobte Soldaten nicht allzu gerne als Burschen arbeiten.«

      »Aber der Krieg ist vorbei. Was sollten sie sonst tun?«

      »Welchen Dienstgrad hatten sie denn bei der Schutztruppe?«

      »Sie gehörten meist zu den Mannschaften. Einige waren Effendis.«

      »Effendi? Ist das nicht ein osmanischer Titel?«

      »Ja. Aber bei uns war es ein Offiziersrang, den wir extra für verdiente Askaris eingerichtet haben. Es gab nicht sehr viele von ihnen, nur wenn mal Beförderungen als Anerkennung für besondere Tapferkeit und Treue notwendig wurden. Drei Sterne auf die Schulterklappen, ein etwas höherer Sold und fertig. Sie waren stolz wie Bolle, und die anderen Neger hat es motiviert.«

      »Und in Deutschland haben sie keine Aussichten auf einen Offiziersrang?«

      »Wo denken Sie hin, junger Mann? Ein Neger kann doch niemals einen Deutschen befehligen.«

      »Wenn der Neger so begabt ist, wie Sie sagen, und der Deutsche ein Trottel ist …«

      »Unsinn! Was reden Sie denn da? Ihre Gehirne sind kleiner als die der weißen Rassen. Der weiße Mann entwickelt Kultur und betreibt Wissenschaft, der schwarze kann all das von uns nur lernen. Deshalb können die Neger nur dienen, niemals herrschen. Das ist die natürliche Ordnung.«

      »Sagten Sie nicht, dass einige Ihrer Askaris außergewöhnlich intelligent waren und dass Sie ohne ihre Talente der feindlichen Übermacht nicht dauerhaft hätten standhalten können?«

      »Es sind aber trotzdem Neger!« Mit der flachen Hand schlug Lettow-Vorbeck einen Schlussstrich auf die Tischplatte.

      Für einen kurzen Moment dachte Gerlach daran zu fragen, ob die weiße Frau nach der natürlichen Ordnung denn im Range über oder unter dem schwarzen Mann stehe. Es wäre eine neue Provokation, die ihn sein Verhandlungsziel vielleicht endgültig verfehlen lassen könnte. Er sollte es nicht sagen, aber ihm war sehr danach, und vielleicht hätte er es getan, wenn nicht in diesem Moment der Adjutant des Generalmajors in höchster Erregung ins Zimmer geplatzt wäre.

      »Herr General«, sagte er und seine Stimme überschlug sich vor Erregung. »Das ist gerade eben eingegangen.«

      Er legte seinem Chef ein Telegramm vor, das dieser mit zunehmendem Entsetzen las.

      »Die Brigade Ehrhardt soll heute Nacht auf Berlin marschieren?« Lettow-Vorbeck schaute seinen Oberleutnant an, wie vor sechs Jahren viele Menschen einander angeschaut hatten, als die Nachricht vom Ausbruch des Weltkrieges bekannt geworden war.

      In den letzten Wochen hatten Gerüchte über einen bevorstehenden Militärputsch die Runde gemacht. Spätestens seit im Januar der Friedensvertrag mit den Alliierten unterzeichnet worden war, empörte sich die Republik über den »Schandfrieden von Versailles«. Die Bedingungen waren überaus hart. Deutschland musste die alleinige Kriegsschuld anerkennen, Hindenburg, Ludendorff, Tirpitz und etliche weitere hochrangige Militärs als Kriegsverbrecher ausliefern, Annexionen dulden, horrende Reparationsleistungen erbringen und das Militär auf ein Zwergenheer reduzieren – schwer zu sagen, was davon die deutsche Seele am meisten belastete. Nicht nur reaktionäre, auch viele gemäßigte, sogar linke Politiker und Intellektuelle hatten sich gegen die Unterzeichnung des Vertrages ausgesprochen. Dennoch setzte sich allmählich die Überzeugung durch, dass in diesem Fall die Besetzung und anschließende Zerschlagung des Deutschen Reichs die unausweichliche Folge wäre.

      Hinzu kam die Legende, dass irgendwer irgendwem einen Dolch in den Rücken gerammt habe. Wer wem? Die Juden den im Felde unbesiegten Soldaten, die vaterlandslosen Gesellen dem Vaterland? Ebert Hindenburg? Darauf wollte man sich in letzter Konsequenz nicht einigen, schließlich war es wesentliches Element einer Legendenbildung, dass es nicht zu konkret werden durfte. Die Dolchstoßlegende war bereits ein Jahr durch Deutschlands reaktionäre Köpfe gewabert, als sie auf das Narrativ des Schandfriedens von Versailles traf und mit ihm wie zwei Atomkerne in zerstörerischer Gewalt verschmolz.

      Der Aufprallzünder war scharf. Republikfeindliche Kräfte verbündeten sich unter der Leitung von General Walther von Lüttwitz, dem Befehlshaber des Reichswehrgruppenkommandos 1 in Berlin, und schmiedeten Umsturzpläne, bei denen sie sich insbesondere auf die vor Berlin stationierte Marine-Brigade Ehrhardt stützen wollten. Noch hielten sie den Zeitpunkt für nicht passend, noch hatten sie ihre Vorbereitungen nicht gänzlich abgeschlossen. Doch als Reichswehrminister Noske vor ein paar Tagen entschied, dass mehrere Freikorps, darunter die Brigade Ehrhardt, in Erfüllung des Friedensvertrages umgehend aufzulösen seien, raste die Bombe zu Boden. Lüttwitz forderte die Reichsregierung auf, den Auflösungsbefehl zu widerrufen, und wurde dafür von Noske seines Postens enthoben. Jetzt blieb ihm nur, das Feld zu räumen oder den Putsch auszulösen. Offenbar hatte er Letzteres gewählt.

      »Was soll denn das?«, echauffierte sich Lettow-Vorbeck. »Ist Lüttwitz noch bei Trost? Das ist doch viel zu früh!«

      »Soll ich die Truppe in Alarmbereitschaft versetzen, Herr General?«, fragte der Oberleutnant.

      Fast schien der Brigadegeneral seinen Gast vergessen zu haben, so groß war die Aufregung. Jetzt schaute er ihn an, und es war klar, dass die Besuchszeit zu Ende war. Ohne dass es eines Wortes bedurfte, war Gerlach schon durch die Situation aufgefordert worden, sich von seinem Stuhl zu erheben.

      »Ich brauche den Leichnam, Herr General, anderenfalls muss eine gerichtliche Beschlagnahme angeordnet werden«, sagte er und kam sich nach der Putsch-Nachricht mit seinem Anliegen reichlich unbedeutend vor.