Diana Kinnert

Die neue Einsamkeit


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schwarzmalen. Charlie Chaplin tat es mit der Industrialisierung, Jacques Tati ließ seinen Monsieur Hulot auf die Auswüchse der Moderne los, und inzwischen gehört die Verkündung einer düsteren Zukunft zum alltäglichen Geschäft der medialen Fehlerfeststellungskommandos. Verlockend ist das Unkenrufen, quotentreibend die allgemeine Untergangslaune.

      Ähnliches geschieht gerade mit dem frisch konstatierten Phänomen der großen Vereinsamung. Und tatsächlich klingen die Zahlen nicht gut, die Befunde müssen verunsichern.

      Und jetzt auch noch: Corona. Die Pandemie spülte vieles an die Oberfläche. In echt viralem Tempo und im globalen Maßstab stellte Covid-19 auf einmal die Frage, wie und warum die Menschheit so lange das Falsche zulassen konnte, ohne das Richtige zu tun. Beim Klima. Bei der Tierhaltung. Bei der Gesundheit. Beim Turbokapitalismus und beim im selben Atemzug praktizierten Sparwahn, der sich hinter dem hübschen Begriff der Austerität versteckt. Doch brachte die Pandemie noch ein weiteres Thema eiskalt und mit Macht auf den Plan: Nämlich und ganz besonders das der kollektiven Vereinzelung.

      Geradezu emblematisch trieb es das Virus hier auf die Spitze und uns alle in die einsame Verbannung. Schon sprachlich standen auf einmal Begrifflichkeiten auf der Tagesordnung, die es deutlicher nicht sagen konnten. Social distancing. Abstandsregeln. Kontaktsperren. Shutdowns, Homeoffice und häusliche Quarantäne. Imperative, die uns aufforderten: Bleibt zu Hause! Haltet Abstand! Gebt euch nicht mehr die Hände! Tragt Masken! Separiert euch! Wie nichts anderes zuvor machte das Virus die Fragmentierung zum Programm: Nicht mehr als eine Person aus einem anderen Haushalt! Schulen zu. Kitas zu. Sogar die Städte: Dicht. Es war, als sei die Vereinzelung mit einem Schlag auf ihrer höchsten Steigerungsebene angekommen. Der Mensch, allein daheim. Verkrochen in den eigenen vier Wänden.

      Die meisten litten schon nach kurzer Zeit unter diesem Zustand. Der moderne Mensch drehte im Homeoffice langsam durch. Senioren fühlten sich noch einsamer, als sie es eh schon waren, Kinder vermissten ihre Schulfreunde, in Italien traten die Menschen vor Verzweiflung auf die Balkone und sangen. In den Krankenhäusern erlebten derweil Abertausende, was in vielen Hospizen und auf Friedhöfen längst bekannt ist und was nun auch die Öffentlichkeit unverblümt zu sehen bekam: anonymes Sterben.

      »Zweifellos«, schrieb der Spiegel, »verschlimmert Covid-19 ein Problem, das schon vorher Millionen Menschen und Regierungen auf der ganzen Welt beschäftigt hat: Einsamkeit.«

      Wird die Pandemie die Gesellschaften langfristig verändern? So lautete eine der vielen neuen Fragen. Eine nächste: Werden die Alten ab sofort nur noch mehr ausgegrenzt, ausgeschlossen, weggesperrt? Werden wir uns alle über Generationen gelernte Begrüßungsformen abgewöhnen? Kein Händeschütteln, kein High five mehr unter Freunden? Sogar Mütter und Töchter standen sich gegenüber, Tanten und Nichten, und sie wagten nicht mal mehr eine flüchtige Umarmung. Das Virus führte zu einer bisher ungekannten Berührungslosigkeit. Die Forscher sprachen vom größten Sozialexperiment aller Zeiten, denn Corona gipfelte in einer gigantischen, weltumspannenden Vereinzelungsstarre. Mitte April 2020 galten in 115 Ländern der Erde explizite Ausgangsbeschränkungen.

      Spätestens damit war die Vereinzelung kein Phänomen mehr, sondern zum globalen Status quo avanciert.

      Einige befürchten in diesen neuen virulenten Zeiten eine Krise, die am Ende womöglich schlimmer ausfällt als die wirtschaftliche. Experten wie Vivek Murthy und James Coan haben ihr auch schon einen Namen gegeben: Erstmals ist von einer sozialen Rezession die Rede. Von einer Vereinsamung in corpere, die es so noch nie gegeben hat.

      Das sind die schlechten Nachrichten. Doch es gibt vielleicht auch gute. Denn was ist ebenfalls in Zeiten der programmatischen Separierung geschehen? Die digitalen Verbindungen schnellten in die Höhe, Zoom und Skype gerieten zu millionenfach genutzten Plattformen für Meetings und gemeinsame Besprechungen. Interviews und Fernsehbeiträge, sonst aufwändig von weitgereisten Kamerateams produziert, entstanden binnen weniger Minuten via Smartphone. Ohne große Dramaturgie, eher improvisiert, oft spontan. Das Internet, sonst vielgescholtenes Disruptionsmedium, wurde zum Austauschbeschleuniger, zum Fluidum der Zusammenkünfte.

      Die Jungen feierten ihre Corona-Partys und schauten gemeinsam Filme, saßen mit Freunden auf dem Sofa, jeder für sich zu Hause. Sie aßen dabei Chips und tranken Negroni, der eine draußen auf dem Land, der nächste in der Stadt, in der Wohnung nebenan, der nächste in Australien, Kanada, Neuseeland, wohin auch immer es ihn während seines Work-and-Travel-Trips gerade verschlagen hatte – und doch saßen sie am Ende alle irgendwie in einem Boot.

      Bald standen die Leute auch in Frankreich, Spanien, Deutschland auf ihren Balkonen, sie öffneten die Fenster, klatschten, bekundeten Solidarität. Schufen Zusammengehörigkeit, Verbundenheit. Konzerte wurden aus menschenleeren Bars übertragen, Lesungen aus verwaisten Hörsälen. Es war, als würde der Mensch die Separierung nicht wollen und nicht ertragen, die Vereinzelung auf einmal mit aller Macht aushebeln wollen. Und dies schließlich auch tat. Digital. Virtuell. Mal mehr, mal weniger. Mal auf bereits benutzten Bahnen, mal erfinderisch oder auch radikal neu. Mitgliederversammlungen stiegen auf einmal in virtuellen Räumen, in Windeseile entwickelte Apps machten auf einmal Housepartys möglich und gestreamte DJ-Auftritte. Die Masken, einst geradezu exemplarische Entfremdungsaccessoires, wurden plötzlich zu persönlichen Designerstücken, zu in Kellern und improvisierten Nähstuben gefertigten Symbolen gemeinsamen Handelns. Zum Stoff des Zusammenhalts in Zeiten des Auseinanderpurzelns.

      Da waren auf einmal neuartige Membranen. Kanäle und Verbindungskorridore, von denen wir vorher nichts wussten.

      Ist das nun alles gut? Ist das nun alles schlecht? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Denn ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Was hier nämlich gerade abgeht, ist nichts Geringeres als ein großes, spannendes, wichtiges und ziemlich entscheidendes Experiment. Wie geht der Mensch mit sich selbst um? Wie mit den über acht Milliarden anderen, die auf dieser Erde leben, einer Erde, die nicht größer wird und gerade auch nicht wirklich flauschiger? Wie tauscht er sich aus, wie begegnet und begreift er sich? Als Partikel im Ganzen oder Partikel des Ganzen? Wie schafft er in der zunehmenden Enge und unter der Last der großen Fragen einen Zusammenhalt? Wie findet er einen sinnvollen Generalkurs, der sich aus Tausenden verschiedenen Zickzacks ergibt?

      Ich möchte mich am liebsten an nichts halten. Möchte alles Vorgefertigte vergessen, alles Gelernte und am besten auch mich selbst annullieren. Möchte in diesem Buch vorsichtig forschen und neugierig fragen, wie er womöglich funktionieren könnte, dieser geheimnisvolle Stoffwechsel zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen.

      Einsamkeit, die Unbekannte

      Viele haben versucht, das alte Gefühl zu erklären. Die eine Definition aber gibt es nicht. Zu unterschiedlich und subjektiv offenbart sich das ominöse Sentiment. Die modernen Zeiten machen es nicht leichter. Die digitale Revolution hat zu Phänomenen der Vereinzelung geführt, die wir noch gar nicht richtig begreifen. Womit also haben wir es zu tun? Wie gedenkt die Politik die Sache anzugehen? Und warum muss die Einsamkeit endlich aus der Tabuzone?

      Lange hatte ich keinen blassen Schimmer, was Einsamkeit ist. Schlimmer: Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, was dieser Zustand alles bedeuten kann. Einsamkeit fand bei mir als Wort statt, als Teil meines Vokabulars – mit all den Gemeinplätzen, die sich damit leichtfüßig bedienen lassen. Eine Freundin fühlte sich einsam nach einer Trennung, Freunde zogen sich vor dem Examen zurück, um sich ein paar Wochen in aller Ruhe und Einsamkeit vorzubereiten. Auf solche und ähnliche Konnotationen war mein Einsamkeitsbegriff lange beschränkt: Mehr war in dieser Schublade nicht drin. Und ich denke, vielen anderen dürfte es ähnlich ergehen. Einsam ist eben einsam. Abgehakt.

      Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal von politischen Maßnahmen gegen Einsamkeit hörte, war ich auch darum irritiert. Und staunte regelrecht. Da sprachen einige statt von Einsamkeit von sozialer Isolation – und stuften diese als einen Zustand ein, der angeblich weitverbreitet war.

      Konnte das wirklich sein? Und: War das Gefühl einer subjektiv empfundenen Einsamkeit tatsächlich mit realen gesellschaftlichen Konsequenzen verbunden? Mit anderen Worten: Hatte die Einsamkeit der Menschen Einfluss auf die Gesellschaft? Und konnte andererseits die Gesellschaft einsam machen?

      Vor allem fragte ich mich: Wie konnte sich ein