Micha Krämer

Sand im Dekolleté


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und eine gute Freundin von Inges Tochter Nina. Über diese hatten sie die netten Langeooger auch erst kennengelernt.

      „Meine Jüte, wat hat die Olle eine Krümelschublad“, sinnierte der Kölner gerade und starrte mit offenem Mund zu Erna Kolchowsky, deren üppige Oberweite nach einem Lacher vor einigen Sekunden immer noch nachbebte.

      „Die hat was?“, musste Hans Peter jetzt mal nachfragen.

      „Na, su ’ne Krümelschublad … hier fürne su … da, wo der beim Essen die ganzen Krümel reinfallen tun … Wie sät man dann noch … Dekolldingens … oder so“, wiederholte Martin von Schlechtinger sich und deutete auf seine Brust.

      „Ach, du meinst ihr Dekolleté“, verstand Hans Peter Thiel jetzt.

      „Jo, su genau heißt dat wohl … glaub ich“, bestätigte Martin und nippte an seinem Bier.

      „Na ja … also erotisch ist anders“, musste Hans Peter jetzt mal loswerden, obwohl er sich im Grunde von sexistischen Sprüchen eher distanzierte.

      Martin sah derweil auf seine Uhr und seufzte.

      „Dat Frau Annemarie hät aber heute auch wieder eine Ausdauer“, stöhnte er nun.

      Hans Peter blickte zu Annemarie Hansen, die neben seiner Inge saß und ebenfalls mächtig Spaß zu haben schien.

      „Morgen um halb sechs geht der Wecker“, sinnierte Martin weiter.

      Tja, da hatte es Hans Peter deutlich besser. Er als Pensionär im Urlaub konnte morgen so lange ausschlafen, wie er mochte, oder zumindest so lange, wie Inge ihn ließ. Im Grunde waren sie beide ja Frühaufsteher. Außer natürlich, wenn es abends mal später wurde und noch hinzukam, dass Inge Alkohol konsumierte. Dies tat sie selten, weshalb sie auch dementsprechend eher wenig vertrug. Morgen, das wusste er jetzt schon, würde es ein sehr ruhiger Tag werden, an dem er so richtig entspannen konnte, während sie vermutlich die meiste Zeit mit einem Mordskater im Bett liegen würde.

      „Zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag viel Glück. Zum Geburtstag, liebe Erna … zum Geburtstag viel Glück“, stimmte mit einem Mal Oberrumkugel Hubert Bitterbach den Chor der Rumkugeln an, die ausnahmslos in das schiefe Geplärr einstimmten. Selbst Martin von Schlechtinger sang voller Inbrunst mit, während Hans Peter nur langsam fassungslos den Kopf hin und her bewegte. Peinlicher ging es doch nun wirklich nicht mehr.

      „Wie schön, dass du geboren bist … wir hätten dich sonst sehr vermisst“, trällerte Hubert nun auch direkt den nächsten Geburtstagshit hinterher, der nun wirklich auf keinem Kindergeburtstag fehlen durfte. Hans Peter wandte sich ab und trank weiter Bier. Was könnte er jetzt schön daheim vor dem Fernseher sitzen. Seine Hand glitt unbewusst zu seiner Brusttasche, wo sich früher für gewöhnlich seine Zigaretten befunden hatten. Aber wie immer in den letzten vier Jahren griff er ins Leere. Daran, dass er nicht mehr rauchte, konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Gerade an solchen Abenden wie heute vermisste er seine Filterlosen schon sehr.

      „Sag mal, Hans, häst du schon mal so ein Rubbellos gekauft?“, riss ihn die Stimme von Martin aus seinen Gedanken.

      „Was?“, verstand er gar nicht, was der Kölner von ihm wollte und sah von seinem Bierglas auf.

      „Na su ein Rubbellos … wie dat, wat der Mann da dieser Erna gerade geschenkt hat“, erklärte der Kölner.

      Hans Peter drehte sich wieder um. Erna Kolchowsky wedelte mit einem blau glitzernden, etwa postkartengroßem Los umher und drückte Heribert Wolf an sich. Der arme Kerl konnte einem fast leidtun.

      „Danke schön, Heri, nein, wie lieb von dir“, freute sich die Jubilarin und drückte dem rüstigen Rentner einen dicken Schmatzer auf den Mund. Dem erschrockenen Gesichtsausdruck nach schien dieser nicht wirklich begeistert von der Kussattacke zu sein. Überhaupt kam nun Bewegung in die illustre Gruppe. Fast alle erhoben sich, um Erna zu gratulieren. Selbst Martin von Schlechtinger, der Erna ja erst seit wenigen Stunden kannte, reihte sich ein. Auf den nun frei geworden Barhocker zu seiner Linken sank derweil ein ziemlich geschaffter Heribert.

      „Meine Güte, ist die Olle anstrengend“, stöhnte er.

      Hans Peter stimmte nickend zu.

      „Vielleicht gewinnt sie ja die halbe Million und wandert dann auf eine Südseeinsel aus“, überlegte Heribert laut. Hans Peter sah ihn von der Seite an. Er und Heribert kannten sich schon aus der Schule. Der alte Schulfreund grinste und bestellte dann bei der Bedienung noch ein Pils.

      Keine fünf Minuten später hockte die Schar der Gratulanten wieder brav am Tisch und sah gebannt zu, wie Erna Kolchowsky mit dem Rand einer Fünfzigcentmünze das Gewinnfeld freirubbelte.

      „Du musst das Feld mit den Barren freirubbeln. Wenn du eine Sieben findest, dann ist der Betrag, der danebensteht, dein Gewinn“, erklärte Walter Humberger, der neben Erna saß und dessen Kopf beinahe nun auf ihrer Schulter lag. Wie konnte jemand nur so neugierig sein, überlegte Hans Peter Thiel. Wobei … ja … irgendwie war er ja auch ein bisschen gespannt, was nun bei diesem Gerubbel zum Vorschein kam. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass das Los mit großer Wahrscheinlichkeit eine Niete war. Martin von Schlechtinger, der nun wieder neben ihm auf dem Barhocker thronte, gähnte.

      „Hoffentlich is hier mal bald Schluss … mir muss ins Bett“, flüsterte er. Hans Peter nickte. Ja, das musste er auch langsam. Dennoch wollte er jetzt wissen, was auf diesem Los stand. Erna hielt nun inne und deutete auf das Stück Papier.

      „Eine Sieben, da ist tatsächlich eine Sieben“, jubelte Walter Humberger begeistert.

      „Los, Erna, jetzt das Feld daneben. Da steht dann, was du gewonnen hast“, drängelte er.

      Erna blickte sich verstohlen um, ihr Kopf glühte rot wie eine Tomate. Dann rubbelte sie weiter, hielt dabei aber die Hand so, wie man es früher in der Schule gemacht hatte, wenn man partout verhindern wollte, dass der Banknachbar bei einem abschreiben konnte. Erneut hielt sie inne. Die Gespräche am Tisch waren verstummt.

      „Nun zeig schon“, drängelte Walter als Erster.

      „Ich habe gewonnen“, sagte Erna und blickte in die Runde, in der nun auch andere Stimmen laut wurden, Erna solle es zeigen.

      „Natürlich hast du gewonnen. Da war ja schon eine Sieben. Aber wie viel, Erna? Wie viel hast du gewonnen? Zehn, hundert oder tausend Euro … oder etwa noch mehr?“, nervte Walter weiter. Ernas speckige linke Hand lag nun auf dem Los und verdeckte es. Als Walter sich anschickte, danach zu greifen, klatschte sie ihm mit der Rechten auf seine Finger und sah ihn dabei gespielt zornig an.

      „Pfoten weg“, schimpfte sie. Nahm dann das Los vom Tisch, faltete es einmal in der Mitte und steckte es sich zwischen ihre Brüste ins Dekolleté, wo es zur Gänze verschwand. Eine Geste, die noch mehr Unruhe in der Rumkugelrunde aufkommen ließ.

      „Jetzt los, Erna, sag schon“, hörte Hans Peter Inges Stimme in dem Gewirr.

      Erna erhob sich und winkte zur Theke.

      „Hallo, Herr Wirt … eine Lokalrunde bitte … aber von dem guten Birnenschnaps mit Schoko“, orderte sie. Der junge Mann hinter dem Tresen ließ sich das nicht zweimal sagen und begann sofort einzuschenken.

      „Jo, einer geht noch, aber dann is Schluss“, fand Käpt’n Piet Dönges.

      *

      So mies, wie an diesem ansonsten wunderschönen Septembermorgen, war es Martin von Schlechtinger schon lange nicht mehr gegangen. Vom Meer her blies eine laue Brise, als er gegen sechs Uhr, so wie er es jeden Morgen tat, zum Strand radelte. Neben ihm her lief wie immer Lumpi, die Border Collie Hündin. Heute fuhr er nicht wie gewöhnlich erst ein Stück in Richtung der Melkhorndüne, wie die höchste Erhebung der Insel genannt wurde, sondern nahm den direkten und kürzesten Weg zum Strand. Das Radfahren fiel ihm schwer, und er sehnte sich einfach nur nach seinem erfrischenden morgendlichen Bad im Meer. Danach würde es ihm bestimmt besser gehen. Die Straßen und Gassen waren noch leer, als er sein Fahrrad am Beginn des Holzbohlenweges in der Nähe des „Seekrug“ abstellte und nur mit einem Handtuch unter dem