Heike Ulrich

Witterung – Lauf so schnell du kannst


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seines Nachbarn, dann ließ er den Stummel aus dem Spalt der heruntergelassenen Fensterscheibe gleiten.

      „Du hast recht, alles zu seiner Zeit, alles zu seiner Zeit!“

      Er grinste und spürte sofort dieses angenehme Gefühl, diese heftige Adrenalinausschüttung – so wie sie ein Jäger kurz vor dem entscheidenden Schuss verspürte. Euphorisch summte er den Schlager im Radio mit, den zunehmend genervten Gesichtsausdruck des Fahrers ignorierend. Sollte er sich doch ärgern!

      Aus der Ferne hörte man plötzlich Polizeisirenen. Augenblicklich gab der Fahrer Gas und raste in die Dunkelheit einer Unterführung, während Abraxas in seinen Sitz gedrückt wurde und vergeblich versuchte, sich umzudrehen.

      5

      Sie hielt sich am Waschbecken fest, um nicht umzufallen, und blickte ihr Spiegelbild an. Michaela sah es selbst – sie sah schrecklich aus.

      „Nimm dich zusammen“, flüsterte sie, „du ziehst den Job durch!“

      Sie kämpfte gegen den plötzlichen Schwindel an und gegen das heftige Gefühl, bewusstlos zu werden. Ausgerechnet in diesem Moment betrat Sigrid Klossek, die Teamleiterin, den Waschraum der Toilette.

      Sie warf Michaela einen besorgten Blick zu.

      „Ist Ihnen nicht wohl, kann ich irgendetwas für Sie tun, Frau Schubert – wollen Sie vielleicht nach Hause gehen?“ Michaela riss sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln.

      „Nein, nein, alles gut. Kleiner Migräneanfall, es geht gleich wieder, habe schon eine Tablette eingenommen.“

      Sigrid nickte. „Oje, Sie Arme, das kenne ich.“ Damit suchte sie die Toilettenkabine auf.

      Michaela betupfte sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser und ließ den Wasserstrahl über ihre Handgelenke laufen.

      Immer noch raste ihr Puls.

      Sigrid kam von der Toilette zurück, trat zum Waschbecken und wusch sich die Hände, während sie Michaela über den Spiegel mitfühlend anlächelte.

      „Also, dann bis gleich.“

      Michaela nickte und erwiderte das Lächeln. „Ja, bis gleich.“

      Sigrid verließ den Raum, und Michaela betrat hastig eine der Toilettenkabinen und verschloss sie – dann sackte sie zusammen und bekam einen Heulkrampf. Ihr ganzer Körper schüttelte sich. Sorgfältig verschlossene Erinnerungen – Flashbacks – jagten plötzlich wieder und wieder durch ihren Geist und quälten sie. Sie versuchte, es zu kontrollieren, doch es gelang ihr nicht. Dann bekam sie Schüttelfrost. Die Luft schien verbraucht, und sie atmete heftig, während ihre Hände zu kribbeln begannen. Dann musste sie sich übergeben. Nach einer scheinbar endlosen Zeit wurde ihr Atem ruhiger, und die Panik legte sich allmählich. Sie überlegte fieberhaft – was konnte sie tun? Aufgeben? Das kam nicht infrage! Sie überlegte weiter. Niemand außer Sigrid Klossek hatte ihren Zustand bemerkt. Weder ahnte sie den wahren Grund noch wussten die anderen etwas. Was also diese Sorge betraf –, war alles bestens.

      Dann fiel ihr etwas ein. Sie zog ihr Handy aus der Handtasche. Nach einem Moment des Zögerns tippte sie eine Nummer ein, und als sich eine Stimme meldete, löste sich alles. Nicht ein einziges Mal wurde sie unterbrochen – dann hörte sie eine lange Weile nur zu, während sie sich allmählich beruhigte. Zum Schluss bedankte sie sich und drückte die Aus-Taste. Das hatte gutgetan, sie fühlte sich leichter und gestärkt. Noch einen Moment, dann würde sie nach draußen gehen und sich weiter um die traumatisierten Frauen und deren Kinder kümmern. Sie würde ihr altbewährtes Pokerface aufsetzen, doch dabei sehr wachsam sein. Es gab eine Lösung. Diesmal war sie im Vorteil. Gleich war Mittag, dann war sowieso für heute Dienstschluss – Juna und Rebecca würden draußen warten. Sie putzte sich die Nase, legte neues Make-up auf und atmete tief durch, dann verließ sie den Toilettenraum.

      6

      Eine heruntergekommene Villa, die aus der Welt gefallen zu sein schien und mit Efeu überwuchert war, kam in Sicht.

      „Na endlich“, Abraxas' Laune war auf dem Tiefpunkt, „kannst du mir mal sagen, warum wir uns nicht versteckt haben – warum sind wir nicht nachts weitergefahren?“

      Der Fahrer antwortete nicht.

      „He? Ich meine nur, anstatt das Risiko einzugehen, von den Bullen erwischt zu werden!“

      „Was beschwerst du dich, ist doch alles gut gegangen, oder?“

      Abraxas' Kopf ruckte herum.

      „Was ich mich beschwere? Was ich mich beschwere?! Ist das dein Ernst? Wir sind dem Bullenauto nur ganz knapp entkommen – das beschwere ich mich! Anfänger!“

      Abraxas griff nach der Zigarettenpackung und zündete sich eine an. Ein schmiedeeisernes Tor öffnete sich und schloss sich sofort wieder, nachdem der Wagen die Einfahrt passiert hatte und nun den schmalen Kiesweg entlangfuhr. Der Fahrer verlangsamte das Tempo und hielt schließlich an. Abraxas schaute ihn fragend an, als er ein leises Summen vernahm. Das Vibrieren kam vom unteren Teil des Wagens. Die seitlichen Büsche und das Haus, alles glitt plötzlich nach oben weg, während sie offensichtlich mit einer Art Aufzug nach unten fuhren. Etwas später vernahm Abraxas das Summen eines Mechanismus, und etwas rastete ein.

      Der Fahrer startete den Wagen erneut und fuhr von der Plattform herunter.

      Abraxas blickte sich um. Sie befanden sich in einer Art unterirdischer Halle. Er beobachtete, wie die Plattform langsam nach oben schwebte und die Deckenöffnung wieder verschloss. Weiter ging die Fahrt – einen schmalen Tunnel entlang, der in einem großen Raum, einer Art Kellergewölbe, endete. Neben einem alten, roten Lieferwagen kam der BMW zum Stehen, und nach einem kurzen Moment des Innehaltens grinste der Mann Abraxas vielsagend an. Der reckte sich und grinste zurück.

      „Na gut, sieht so aus, als wäre meine Flucht geglückt.“

      7

      Der Kriminaltechniker verschloss den Beutel, in der sich die Finger- und Fußnägel befanden, die der Täter seinem Opfer während der Folterung herausgerissen hatte.

      Er wartete, bis Kriminalhauptkommissar Witzbold das Telefonat beendete, das über den Festanschluss des Getöteten gerade hereingekommen war.

      Witzbold machte sich eine Notiz und blickte dann sein Gegenüber fragend an.

      „Wir sind hier fertig und schaffen den Mann jetzt in die Gerichtsmedizin. Den abgeschnittenen Zeigefinger haben wir allerdings nirgends finden können. Vielleicht hat ihn der Täter als Trophäe mitgenommen.“

      Witzbold nickte nachdenklich und betrat die Terrasse. Die beiden Kriminaltechniker hoben die Leiche des etwa Sechzigjährigen, der immer noch im Garten neben seinem Swimmingpool lag, auf die Bahre.

      Witzbold wendete sich ab und marschierte zum Ausgang – auch für ihn gab es hier zunächst nichts mehr zu tun.

      „Herr Witzbold, können Sie schon Näheres sagen?“

      Die junge Reporterin der hiesigen Lokalzeitung versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken, als der Kripo­beamte, der gerade dabei war, in seinen Wagen einzusteigen, sich ihr zuwandte. Auch ihr Kollege war am Feixen.

      Witzbold war längst an die Wirkung gewöhnt, die sein Name auf andere ausübte. Schon in der Schule hatte man gelacht, wenn sein Name, Olav Witzbold, bei der Anwesenheitsfeststellung aufgerufen wurde. Er hatte sich angewöhnt mitzulachen – jeden Morgen –, so lange, bis sich seine Mitschüler an seinen ungewöhnlichen Namen gewöhnt und dieser seine Attraktion verloren hatte. Doch es gab Schlimmeres – zum Beispiel, wenn man Annegret Schweinebraten hieß. Die schöne Kollegin war ihm vor zwei Jahren über den Weg gelaufen. Inzwischen waren sie seit über einem Jahr verheiratet. Alle möglichen Kombinationen ihrer Namen waren sie durchgegangen: Schweinebraten-Witzbold, Witzbold-Schweinebraten oder doch nur Witzbold oder Schweinebraten?

      Olav Schweinebraten – damit hatte er sich überhaupt nicht anfreunden können. Gott sei Dank war seine Angetraute unkompliziert und