Heike Ulrich

Witterung – Lauf so schnell du kannst


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Ayumi einen schuldbewussten Blick zuwarf.

      „Aber gut, ich will kein Moralapostel sein. Also, wenn dir weiter niemand einfällt, der dir übel mitspielen könnte, was soll ich dann für dich tun? Ich bin nicht mehr im Dienst.“

      „Ja, Berti, du sagtest es bereits. Mehrmals!“

      Botho schien genervt und zögerte einen Moment, dann beugte er sich vor und trommelte seine Finger gegeneinander, bevor er weitersprach.

      „Kennst du zufällig einen gewissen Kriminalhauptkommissar Witzbold?“

      Heribert schüttelte zögernd den Kopf.

      „Nein, an so einen Namen würde ich mich, glaube ich, erinnern. Wieso?“

      „Er ist der Ermittler in der Mordsache und möchte mich befragen – übermorgen. Ich dachte, du kannst mich vielleicht begleiten. Dann können wir uns eventuell ein besseres Bild machen und herausfinden, ob wir – also Ayumi und ich – in Gefahr sind oder ob an meinen Befürchtungen tatsächlich gar nichts dran ist. Vielleicht rückt dieser Witzbold ein paar Informationen heraus – so von Kollege zu Kollege, verstehst du?“

      „Von Kollege zu Kollege? Ich glaube, du träumst. Botho, ich sagte dir doch, ich bin nicht mehr im Dienst! Der rückt bei mir keinen Furz an Information heraus, das darf er auch gar nicht, denn …“

      „Ich bezahle dich natürlich“, warf Botho ein.

      Heribert wollte etwas einwenden, doch Botho wehrte es ab.

      „Keine Widerrede, Berti. Ich zahle dir pro Tag“, er dachte kurz nach, „fünfhundert Euro plus Spesen, wenn du der Sache auf den Grund gehst und mich zur Kripo begleitest. Und du ziehst, bis alles geklärt ist, bei uns ins Gästezimmer.“

      „Wie stellst du dir das vor? Ich habe zu Hause noch Sachen zu erledigen.“

      „Dann erledige das, und dann kommst du zurück – wird ja nicht Wochen dauern, vermute ich.“

      Heribert zögerte und fragte sich, was für Informationen sich sein Freund eigentlich erhoffte, dann nickte er zustimmend.

      „Na gut, reicher Mann. Abgemacht – Personenschutz und ein bisschen herumschnüffeln. Von irgendetwas muss der Mensch schließlich leben.“

      Draußen, unter der Laterne, suchte er später den Bürgersteig ab und wurde tatsächlich fündig. An der Mauer, die Bothos Grundstück zu seinem Nachbarn abgrenzte, fand er den Stummel eines Zigarillos mit weißer Spitze. Ayumi blickte ihn erstaunt an, als er wieder vor der Tür stand und um ein Plastiktütchen bat.

      9

      Gestern hatte es geregnet, doch heute würde es ein schöner Tag werden. Durch die Nebelschleier drangen die ersten Sonnenstrahlen. Vom Tau war die Wiese noch feucht und roch würzig. Silbrige Wasserperlchen auf kleinen Spinnennetzen blitzten plötzlich überall auf. Was für ein Zauber, hätte seine Mutter, Gott hab sie selig, vermutlich jetzt gesagt. Ein schlechtes Gewissen beschlich ihn. Denn seine Mutter und er hatten es gut miteinander gehabt – das beste Verhältnis überhaupt, ein Herz und eine Seele, wie man so schön sagte. Nur als es mit ihr zu Ende gegangen war, hatte er, das einzige Kind seiner Mutter, ihr nicht beistehen können – oder wollen. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt und so gesehen auch nie vermisst.

      Er pfiff vor sich hin, während er seine beiden Möpse von der Leine ließ. Sie versuchten, Schritt mit ihm zu halten, fingen aber bald an zu japsen, und Lude verlangsamte seine Schritte, während er die Umgebung aufmerksam absuchte. Außer ihm schien noch niemand im Park unterwegs zu sein, keine anderen Hundebesitzer – erstaunlich.

      Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Er war zufrieden, die Geschäfte liefen gut – sehr gut sogar. Langsam konnte er sich zur Ruhe setzen. Nur, wer konnte seinen Platz einnehmen? Er war unverheiratet, und Kinder waren nicht vorhanden. Jedenfalls keine, von denen er gewusst hätte.

      Er brauchte jemanden, dem er vertrauen konnte – es musste jemand mit Grips sein, kein Besserwisser. Gehorsam und jung musste er sein – Jan Husemann zum Beispiel! War der eine gute Idee? Er dachte einen Moment nach. Es würde sich zeigen – nur nichts überstürzen.

      Zufrieden dachte er an seine klugen Entscheidungen, die er all die Jahre in geschäftlichen Angelegenheiten getroffen hatte – nicht selten gegen die Empfehlungen seiner Finanzberater und Geschäftspartner, und das zahlte sich jetzt eben aus. Er war reich – richtig reich! Neben einer Villa in Hamburg-Nienstedten besaß er diverse Grundstücke in ganz Deutschland und ein Mietshaus in San Francisco. Dort häufig unterwegs, hielt er in besagtem Haus das ganze Jahr über ein Appartement für sich und seine Kunden frei, mit Blick aufs Meer, wenn man oben auf der Dachterrasse mit Swimmingpool stand.

      Doch seine Liebe galt einem Haus, das gerade fertiggestellt wurde, in Thailand, mit Blick aufs Meer, auf einer felsigen Anhöhe – von wegen Tsunami und so.

      Lude plante alles. Bloß nichts dem Zufall überlassen – Sicherheit in allen Bereichen war das A und O. Feste Rituale bestimmten sein Leben, dabei war er zwanghaft und übte auf alles und jeden Kontrolle aus. Dieses Verhalten hassten seine Leute. Doch sie kannten den Grund nicht. Das Unvorhersehbare machte Lude Angst, wie eben auch das Unabänderliche – kurz, Lude fürchtete sich vor dem Tod.

      Er nahm noch einen letzten, tiefen Zug von seiner Zigarette, warf dann den Stummel zu Boden und trat ihn aus. Er blies genüsslich einen Rauchring in die Luft und blickte ihm nach. In Thailand würde er sich nicht mehr die Nächte um die Ohren schlagen, wie bisher. Endlich mal Zeit haben, regelmäßige Tagesabläufe, vielleicht ein bisschen Sport treiben, den Blick aufs Meer genießen, ach und ganz wichtig – einen eigenen Koch, der für ihn gesunde Kost zubereitete. Er lächelte, es war alles bis aufs Kleinste für seine Zeit „danach“ geplant. Er würde sich verwöhnen lassen. Er grinste und gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich ... ah, Ganzkörpermassage – auch sein Schwanz hatte es bitter nötig! Er dachte an die Kunststückchen der kleinen Thaimädchen und -jungen. Es war ihm egal – beide Geschlechter hatten ihre Vorzüge. Was ihn betraf: Er war in beide Richtungen spitz und würde sie für ihre Dienste gut bezahlen. So konnte man einem angenehmen und hoffentlich langen Lebensabend beruhigt entgegensehen.

      Er wunderte sich, immer noch war es erstaunlich still. Nur aus der Ferne hörte man, wenn man sich konzentrierte, das Rauschen des Großstadtverkehrs. Er liebte seine Spaziergänge bei Tagesanbruch – nach dem Geschäft.

      Lude musste plötzlich daran denken, wie er vor ein paar Tagen, hier in der Nähe, nachmittags ein paar Runden gedreht hatte. Dabei war er immer wieder an einem Haus aus der Kaiserzeit vorbeigekommen, das renoviert wurde und gerade neuen Stuck bekam. Bei der ersten Runde hatte einer der Stuckateure seinem Kollegen einen Vortrag darüber gehalten, wie man am besten kackte, ohne dass es im Toilettenraum hinterher stank. Man musste zeitgleich, während die Wurst ins Klo flutschte, die Spülung betätigen – ganz einfach. Wo denn dann die Gemütlichkeit der „Sitzung“ bliebe, hatte der andere Kollege wissen wollen. Lude war schon zu weit weg gewesen, um die Antwort zu hören, gab aber dem, der gefragt hatte, recht. Themen hatten die Leute! Doch er wunderte sich nicht. Die meisten Menschen waren schlicht. Nahrungsaufnahme, Verdauung, Triebbefriedigung. Wenn man das wusste, konnte man damit gut Geschäfte machen. Und war er selbst anders?

      Als er bei seiner zweiten Runde wieder an den Handwerkern vorbeigekommen war, war es um die Welt, insbesondere die westliche, gegangen. Zwar würde viel über Empathie gesprochen, doch in Wahrheit sei man ausschließlich am gegenseitigen Benutzen interessiert. Dieses Verhalten bringe immer mehr Narzissten hervor. Das Leben drehe sich nur noch um das eigene Ego, ohne Gewissen und ohne Mitgefühl. Lude hatte unwillkürlich in sich hineinschmunzeln müssen, denn genau von diesen Personengruppen lebte er, und zwar gut.

      Und dann, bei der letzten Runde, da hatte sich nun der andere Kollege echauffiert – über Leute, die ständig und überall Kopfhörer trugen und so laut Musik hörten, dass die Umgebung gezwungen war mitzuhören. Die reinste Folter! Dann hatte er einen imaginären Revolver gezogen, ihn an seine Schläfe gesetzt und abgedrückt.

      Lude hielt abrupt inne. Apropos ... er begann, in der geräumigen Innentasche