Heike Ulrich

Witterung – Lauf so schnell du kannst


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einen Neuanfang in Kassel wagte und gerade eine Arbeitsstelle als Sozialarbeiterin in einem Frauenhaus angetreten hatte.

      Ayumi merkte auf.

      „Ich kenne diese Einrichtung. Mein Mann und ich, wir spenden dort regelmäßig. Nicht nur Geld, sondern auch Kleidung für die Kinder. Wie die sich immer freuen!“

      Juna kam aus der Kabine und strahlte.

      „Das Oberteil steht dir ausgezeichnet. Und weißt du, was noch dazu passt?“ Ayumi fischte aus einem Stapel Hosen eine schwarze Röhrenjeans. „Wie gefällt dir die?“

      Juna blickte fragend zu ihrer Mutter und sauste zurück in die Umkleidekabine, als Michaela zustimmend nickte.

      12

      Als Botho Lange sein Geschäft erreichte, das genau genommen eigentlich eher ein kleines Kaufhaus war, blieb er stehen und beobachtete von außen das Treiben im Inneren. Seine Frau machte sich gut. Sie stand mit einer Kundin zusammen und unterhielt sich scheinbar angeregt.

      Als sie lächelte, lächelte Botho mit. Er hatte Glück gehabt – ein richtiger Glückspilz war er! Doch ein Schatten legte sich plötzlich auf sein Gesicht. Wenn bloß nicht diese Sache wäre! Aber vielleicht hatte Heribert recht, und alles war ein Zufall und niemand verfolgte ihn. Aber was, wenn doch? Eine Weile stand er nur so da, dann entdeckte ihn Ayumi und winkte.

      Er gab sich einen Ruck und wollte gerade das Geschäft betreten, doch dann hielt er abrupt inne. Im Schaufenster spiegelte sich eine dunkel gekleidete Gestalt. Sie schien ihn anzustarren.

      Die Königsstraße war eine verkehrsberuhigte Shoppingmeile, wo nur Straßenbahnen fuhren. Botho drehte sich um. Eine Straßenbahn hielt gerade und versperrte ihm die Sicht. Mist! Er beeilte sich und wollte wenige Meter weiter oben die Bahngleise überqueren, doch in diesem Moment fuhr die Tram an, und er musste stehen bleiben. Als sie vorbei war, war niemand auf der anderen Seite zu sehen. Eine Weile suchte Botho die Umgebung ab, dann ging er langsam zurück und betrat zögernd sein Geschäft.

      Juna kam aus der Kabine. Man sah dem Mädchen an, wie gut es sich gefiel. Nachdem Ayumi Michaela und ihren Mann miteinander bekannt gemacht hatte, bezahlte Michaela die Sachen und freute sich, als sie einen Preisnachlass auf die Hose bekam.

      „Mein Mann veranstaltet jedes Jahr zum Frühjahr eine Modenschau. Sie findet nächstes Wochenende statt.“ Ayumi warf Botho einen vielsagenden Blick zu.

      Botho verstand.

      „Ja, ähm – genau. Unsere jungen Modelle bekommen Sachspenden. Hätte Ihre Tochter vielleicht Interesse?“

      Juna merkte erfreut auf und warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu. Michaela zögerte, stimmte dann aber zu und freute sich über das glückliche Gesicht ihrer Tochter.

      13

      Beinahe wäre er entdeckt worden. Es gab Menschen, die spürten, wenn man sie von hinten ansah oder gar verfolgte. Sie drehten sich plötzlich blitzschnell um – die kleinen Bastarde!

      Dieses Verhalten musste ein Überbleibsel aus Vorzeiten sein, als die Gefahr überall lauerte und nur ein gutes Gespür und höchste Aufmerksamkeit einen vor seinen Fressfeinden schützen und so das Überleben sichern konnten – eben der siebte Sinn … Intuition!

      Er selbst hatte seine eigenen Wahrnehmungen in all den Jahren trainiert und perfektioniert. Er grinste. Er konnte sich in einen ausgezeichneten Fressfeind verwandeln, war dabei kreativ und effizient – und fast unsichtbar. Nur einmal hatte man ihn geschnappt und in den Knast gebracht. Doch das war jetzt Vergangenheit. Er liebte den Blick, wenn sie erkannten, was mit ihnen geschehen würde. Er war auf der Jagd. Es fühlte sich so gut an, er war lebendig, und sie alle verdienten, was er mit ihnen tat.

      14

      Heribert wartete ab, bevor er nochmals die Klingel betätigte. Das kleine, heruntergekommene Haus wirkte unbewohnt. Hier war Abraxas Lemms letzte Meldeanschrift gewesen, bevor er festgenommen worden war. Er blickte sich um. Das hier gehörte zu einer der trostlosesten Gegenden Frankfurts.

      Als er gehen wollte, wurde die Tür einen Spalt geöffnet, und das eingefallene Gesicht eines alten Mannes, Heribert schätzte ihn auf Mitte siebzig, blickte ihm missmutig entgegen.

      „Adolf Lemm?“

      Der Mann verzog keine Miene. „Wer will das wissen?“

      Er zog seine hochgeschobene Brille runter auf die Nase.

      „Sie wissen, dass Ihr Sohn flüchtig ist?“

      Lemm schwieg.

      „Er ist nicht zufällig zu Hause?“

      „Willst du mich verarschen? Selbst wenn es so wäre, würde ich es DIR doch nicht verraten!“

      Lemm wollte die Tür schließen, doch Heribert war schneller und stellte seinen Fuß in den Türspalt.

      „Kann ich verstehen.“

      Das Gesicht des Mannes blitzte wütend auf. Für einen Moment hatte er sich wieder unter Kontrolle, doch dann veränderte sich seine Körperhaltung, als machte er sich bereit anzugreifen.

      Heribert war gewarnt. Nicht dass er mit dem Mann nicht fertig werden würde, sollte der ihn tatsächlich angreifen. Doch er war nicht sicher, ob Lemm nicht vielleicht bewaffnet war. In diesem Milieu war es Standard, zumindest ein Messer versteckt am Körper zu tragen. Meistens trug man es hinten in der Hose, vom Pullover verdeckt, oder direkt am Inneren des Unterarms.

      Er versuchte, die Situation abzuschätzen. Lemm war nur mit einem Unterhemd und einer fleckigen Jogginghose bekleidet – das Abbild eines heruntergekommenen, sehr ungepflegten alten Menschen, und er mochte sich nicht das Innere des Hauses vorstellen.

      „Also …?“

      „Du bist doch das Bullenschwein, das meinen unschuldigen Jungen in den Knast gebracht hat, ja, genau – jetzt erkenne ich dich …!“

      „Unschuldig, ach so! Weißt du was? Das Bullenschwein kostet es nur einen einzigen Anruf, und seine Kollegen erscheinen hier mit einem Durchsuchungsbefehl“, bluffte Heribert, „willst du das?“

      Dabei überlegte er, ob sein Ausscheiden bei der Kripo wohl schon die Runde gemacht hatte. Doch dies schien nicht der Fall zu sein, zumindest was Adolf Lemm betraf. Heriberts Drohung mit dem Durchsuchungsbefehl schien Eindruck zu machen. Er sah, wie Lemm nachdachte, ihn aber gleichzeitig abschätzend ‚taxierte‘.

      „Nein, ist nicht hier.“

      „Und, war er hier?“

      Der Mann schwieg.

      „Okay, ich kann Sie auch aufs Revier mitnehmen. Einem entlaufenen Sträfling Unterkunft zu gewähren oder dessen Aufenthaltsort der Polizei vorzuenthalten, ist strafbar, das wissen Sie sicher? Auch wenn es sich um Familienangehörige handelt.“

      „Ich weiß nichts, und jetzt lass mich in Ruhe!“

      Heribert sah erneut die Wut in den Augen Lemms aufflackern und fühlte sich merkwürdig an das Gesicht von Abraxas erinnert, mit dem Unterschied, dass er ihm seine Fähigkeit zur Grausamkeit überhaupt nicht hatte ansehen können. Wohl aber dem alten Sack hier, der vor ihm stand. Um seine schmalen Lippen lag ein brutaler Zug, und Heribert wusste, dass er mehr als einmal wegen Einbruchs und schwerer Körperverletzung eingesessen hatte. Die Kindheit von Abraxas war sicher alles andere als schön gewesen – kein Wunder, dass aus ihm das geworden war, was er war.

      „Verpiss dich, Bulle.“

      Einen Moment überlegte Heribert, ob er sich mit Gewalt Zutritt zum Haus verschaffen sollte, doch seine einzige Bewaffnung war ein Pfefferspray. Was, wenn sich Abraxas tatsächlich in der Wohnung befand? Gegen zwei Personen würde er sich wohl kaum verteidigen können. Außerdem würde man ihm ein Verfahren wegen Hausfriedensbruchs anhängen. Doch bei einer realen Chance, dass Abraxas sich hier irgendwo aufhielt, wäre er das Risiko vielleicht sogar eingegangen. Aber wie wahrscheinlich war es tatsächlich, dass