Heike Ulrich

Witterung – Lauf so schnell du kannst


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sind geschieden, Frau Schubert, und haben eine Tochter, richtig?“

      Michaela hielt inne. Worauf wollte Lindner hinaus? Sie antwortete zögernd: „Ja. Ist alles eine Frage der Organisation.“

      „Oh, natürlich, davon bin ich überzeugt. Ich frage nicht aus Neugier. Frau Klossek sagte mir, bevor sie in Urlaub ging, dass Sie gern auf Vollzeit gehen würden. Das wäre eine ziemliche Umstellung für Sie – und für Ihre Tochter, oder?“

      „Das stimmt, aber ...“

      Michaela wollte etwas sagen, etwa, dass sie es sich durchaus zutraute, mehr Stunden zu arbeiten und dass sie das Geld unbedingt brauchte, doch Lindner kam ihr zuvor.

      „Aber wenn Sie es sich zutrauen, und das tun Sie, schließlich hätten Sie sonst nicht gefragt, tue ich es auch. Ich könnte Sie ab nächsten Monat auf sechs Stunden setzen – zunächst. Das bekomme ich ohne Probleme beim Träger durch. Dann sehen wir weiter, okay?“

      „Okay, danke.“

      Michaela wollte gehen, doch Lindner hielt sie zurück. „Frau Klossek, verstehen Sie sich eigentlich gut mit ihr?“

      Michaela stutzte. Worauf wollte er hinaus? „Schon“, sie zögerte. „Gibt es irgendetwas …?“

      „Nein! Nein, überhaupt nicht.“

      Lindner hatte abwehrend seine Hände gehoben.

      „Ich arbeite wirklich sehr gern mit Sigrid Klossek zusammen“, erklärte Michaela mit Nachdruck.

      Lindner lachte verbindlich. „Genau das wollte ich hören. Nur für den Fall, wenn ich unterwegs bin oder Urlaub habe, wie demnächst, dann ist eine gute Zusammenarbeit umso wichtiger. Apropos – Sie haben noch gar nicht Ihren Jahresurlaub eingetragen? Kümmern Sie sich bitte gleich darum, ja?“

      „Mache ich. Und noch mal vielen Dank.“

      Sie verließ Lindners Büro und schloss die Tür hinter sich. Dann blieb sie einen Moment stehen – ihre Beine schlackerten, und auch ihre Hände zitterten. Sie atmete tief durch und lief den Flur zurück.

      18

      „Weiß man schon, wer die Tote ist?“, erkundigte Heribert sich und stellte seine Kaffeetasse ab.

      Er war gerade erst im Kommissariat der Kripo Korbach eingetroffen. Er griff nach den Fotos, die auf dem Schreibtisch lagen, und betrachtete sie nacheinander.

      Witzbold drückte seine Zigarette aus und schloss das Fenster. „Nein, sie war nackt. Keine Kleidung, keine Papiere, nichts.“

      „Okay, das sehe ich. Man hat vermutlich auch die Umgebung abgesucht. Aber könnte es nicht sein, dass der Täter die Kleidungsstücke und ihre persönlichen Gegenstände etwas weiter weg vom Tatort entsorgt hat?“

      Witzbold schüttelte den Kopf. „Es sind sogar Spürhunde zum Einsatz gekommen.“

      Heribert wendete sich wieder den Fotos zu. Der Fundort der Leiche war ein dichtes Waldstück mit Mischbaumbestand, etwa vier Kilometer von der Innenstadt Bad Arolsens entfernt. Im Hintergrund war eine große grünliche Felsformation erkennbar – offensichtlich handelte es sich um Tuffstein. Die Tote lehnte in Sitzposition an einem Baum. Die Arme waren gekreuzt, eine Schlinge lag straff um ihren Hals. Sie war von hinten stranguliert worden.

      Heribert stutzte. „Was liegt da zwischen ihren Beinen?“

      „Bevor sie stranguliert wurde, hat ihr der Täter die Zunge herausgeschnitten und, wie du siehst, hat er ihr die Augen zugenäht. Erinnert an die Miniaturen der drei weisen Affen, findest du nicht?“

      „Mit Ausnahme von ‚nichts Böses hören‘ – die Ohren der Toten sind unversehrt.“

      Witzbold nahm eins der Fotos und betrachtete es ebenfalls. „Stimmt.“

      Heribert dachte an das Bücherregal seiner Eltern, auf dem diese bekannte Affenminiatur stand. „Vielleicht soll es eine Erweiterung des Ganzen darstellen – nichts Böses tun? Schließlich ist sie gefesselt.“

      Nur kurz blieb sein Blick an den verstümmelten Füßen der Toten hängen. Zudem war eine Hand fast abgetrennt und hing nur noch an einem Hautfetzen herab.

      „Was ist mit ihren Füßen und ihrer Hand?“

      „Vermutlich postmortal.“

      „Wieso nicht sauber abgetrennt, warum so zerfleischt?“

      „Bissspuren.“

      „Bissspuren?“

      „Ja.“

      „Sicher?“

      „Ja!“

      Witzbold machte eine ungeduldige Geste. „Also, ich meine nicht Bissspuren vom Täter, sondern von Tieren. Vermutlich liegt die Frau bereits seit dem Wochenende dort – also mindestens vier Tage. Es spricht alles dafür, dass sie dort vor Ort und vermutlich nachts getötet wurde.“

      „Wieso in der Nacht?“

      „Tagsüber sind hier Wanderer unterwegs. Da wird vermutlich kaum jemand das Risiko eingehen.“

      Das klang plausibel. Heribert dachte nach. Wenn auch dieses Morddelikt auf das Konto von Abraxas ging, hatte sich seine Vorgehensweise definitiv verändert. Auch bei diesem Mordopfer fehlten die für Abraxas typischen Signaturen mit den eingeritzten Zahlenabfolgen – seine Unterschrift, wenn man so wollte.

      „Die Felsformation im Hintergrund – wo ist das?“

      „Ist der Markusstein, einige Kilometer weg von der Bad Arolser Innenstadt.“

      Heribert erinnerte sich, dass der Markusstein ein beliebtes Ausflugsziel war. Doch er hatte sich während seiner Reha gegen diese geführte Wanderung entschieden und war lieber mit Anita ins Bett gegangen.

      Kurz dachte er an sie, an ihre Grübchen, ihre üppigen Rundungen, und sofort erwachte sein körperliches Verlangen. Er rief sich zur Ordnung und konzentrierte sich erneut auf die Felsformation. Er hatte etwas zu der Geschichte dieses Ortes gelesen. Der Sage nach war ein Adeliger einer weißen Hirschkuh hinterher­gejagt. Diese war oberhalb des Markussteins von einer Felsplatte in die Tiefe gesprungen und verschwunden. Als das Pferd des Reiters ihr nachsetzen wollte, war dessen treuer Jagdhund ihm in die Zügel gesprungen. Das Pferd hatte abgedreht, und dem Reiter war auf diese Weise der tödliche Sturz in die Tiefe erspart geblieben. Auch wenn es nur eine Sage war, so konnte man vermutlich in ihr einen Funken Wahrheit entdecken.

      Der Markusstein war also uralt und sollte in Vorzeiten eine Kultstätte der Germanen gewesen sein. Verbürgt war, dass ein Einsiedler dort gelebt hatte.

      Eigentlich schien es ein lauschiger Ort zu sein, doch mit der Leiche im Vordergrund bekam die ganze Umgebung eine völlig andere, sehr dunkle Ausstrahlung.

      „Wir haben bereits die anderen Dienststellen informiert und sind die Vermisstenanzeigen durchgegangen. Bisher noch kein Treffer“, erklärte Witzbold. „Wenn sich auch hier DNA-Spuren von Abraxas Lemm finden lassen, dann werden wir eine Sonderkommission gründen.“

      Heribert lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

      „Okay, dann lass uns mal Tacheles reden. Was spricht dafür, dass auch dies“, er deutete auf das Foto, „das Werk von Abraxas ist?“

      Witzbold räusperte sich.

      „Ich sagte es dir bereits am Telefon, doch ich würde gerne hören, was du denkst. Jetzt, nachdem du die Bilder gesehen hast.“

      „Also gut.“ Heribert dachte einen Moment nach. „Ich fasse mal zusammen – unter dem Aspekt, dass ich vom Tatort in Wolfhagen auch nur Bilder gesehen habe, deshalb kann ich dazu auch nur begrenzt etwas sagen. Was wissen wir? Erstens: Aufgrund der dort gefundenen DNA-Spuren muss Abraxas der Mörder Walter Zellers sein, richtig?“

      Witzbold nickte. „Richtig.“

      „Zweitens: