Heike Ulrich

Witterung – Lauf so schnell du kannst


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Bisher tötete er aus reinem Vergnügen. Er liebt es, sich an der Hilflosigkeit seiner Opfer zu weiden, und genießt seine Macht – das macht ihn geil. Was ich sagen will, ist: Wir müssen davon ausgehen, dass sich Abraxas’ Vorgehensweise verändert hat und vielleicht sogar weiter verändern wird – auch was seine Motive betrifft.“

      Witzbold runzelte die Stirn und schien nachzudenken.

      „Er fühlt sich auf jeden Fall sehr sicher. Vielleicht ist das der Grund, warum er Spuren hinterlässt. Verhöhnt er uns, weil er davon ausgeht, dass man ihn nicht kriegen kann?“

      „Möglich. Vielleicht hat er aber auch im Fall Zeller keine Zeit gehabt, sein Vorgehen so wie früher akribisch zu planen, und hat deshalb Spuren hinterlassen – oder er ist gestört worden.“

      Witzbold stutzte. „Moment, das verwirrt mich jetzt. Hast du nicht gesagt, Abraxas geht willkürlich vor? Also, was jetzt, willkürlich oder geplant?“

      „Das habe ich so nicht gesagt. Es stimmt, er sucht seine Opfer willkürlich aus. Damit meine ich, dass er keine Affinitäten zu bestimmten Personengruppen hat. Bisher! Vielleicht hat sich auch das geändert – wir werden sehen. Doch die eigentliche Tat war immer akribisch geplant. Um seine Opfer in Szene zu setzen, muss er ihre Gewohnheiten genaustens ausspionieren.“

      „Das heißt also – die Person erregt zufällig Abraxas’ Interesse, und erst dann entwickelt er den Plan, wie er sein Ziel umsetzen kann?“

      „Genau.“

      Heribert nahm einen Schluck von seinem Kaffee und dachte einen Moment nach. „Deine Anmerkung, dass Abraxas sich sehr sicher fühlt, ist ein wichtiger Punkt!“

      „Okay, was sagt uns das?“

      Witzbold gab sich selbst die Antwort. „Vermutlich, dass er sich an einem Ort versteckt, wo niemand ihn vermutet.“

      „Ein Ort, zu dem er ohne Gefahr immer wieder zurückkehren und unsichtbar werden kann“, ergänzte Heribert.

      Witzbold zündete sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster. „Was denkst du, was könnte in dem Schließfach gelegen haben, dass es für Abraxas so wichtig war?“

      „Keine Ahnung, vermutlich Wertsachen, Geld. Abraxas ist vermutlich pleite.“

      Witzbold nahm einen Zug von seiner Zigarette, inhalierte und atmete den Qualm aus, während er den Kopf vehement schüttelte und eine abwinkende Geste machte.

      „Zellers Portemonnaie lag gut gefüllt auf seinem Küchenblock.“

      Heribert erinnerte sich an das Tatortfoto mit dem Portemonnaie in der Küche.

      „Stimmt – dann scheidet dieser Aspekt wohl eher aus.“

      „Also muss es etwas Wertvolleres gewesen sein. Das könnte dafür sprechen, dass er gezielt danach gesucht hat.“

      Heribert gab Witzbold recht. Es stellte sich also die Frage, wer Abraxas die Sache mit dem Schließfach gesteckt hatte. Konnte es jemand aus seinem unmittelbaren Umfeld sein, Kumpels aus dem Gefängnis? Oder gab es tatsächlich eine Verbindung zwischen Zeller und Lemm? Heribert fröstelte plötzlich und zog sich seine Jacke über, während er registrierte, dass Witzbold sofort aufstand und das Fenster schloss.

      „Und was ist mit der Frau?“ Heribert reichte ihm das Foto herüber, „sie wurde gefoltert, die abgeschnittenen Körperteile wurden arrangiert – das passt auf jeden Fall zu Lemm.“

      „Sehe ich genauso, aber warum ermordet er sie ausgerechnet an diesem Ort? Und vor allem, wie ist die Frau überhaupt dorthin gekommen?“

      „Ihr habt keine Autospuren gefunden?“

      „Nein. Dafür Fußabdrücke – jede Menge.“ Witzbold deutete auf die Fotos.

      Heribert fischte eins der Fotos vom Stapel und betrachtete es. Auf dem Waldboden waren quaderförmige, metallene Absperrungen verteilt, die alle durchnummeriert waren. Dies war normales Prozedere der Spurensicherung. Um jeden kleinen Fußabdruck wurden diese Absperrungen verteilt, damit nichts verwischt wurde.

      „Die Analyse der Gipsabdrücke liegt noch nicht vor. Wird schwierig werden – die Zuordnung, meine ich.“

      „Ist es gesichert, dass die Frau vor Ort getötet wurde?“

      Witzbold nickte. „Sie wurde nach ihrem Tod nicht mehr bewegt, das ist sicher. Aber erklär mir mal, warum er sich ausgerechnet für diesen Ort entschieden hat?“

      Heribert antwortete nicht sofort. Er wusste, Lemm hatte Sinn für Dramatisches. Einmal hatte er eins seiner Opfer direkt auf der Frankfurter Zeil ausgestellt und damit viele der morgendlichen Passanten verstört. Das Opfer war erdrosselt worden. Vom linken Ohr über den Mund bis zum rechten Ohr war ein tiefer Schnitt ausgeführt worden – eine lächelnde Fratze. In der rechten Hand hatte das Opfer einen Hut gehalten, wie beim Betteln. Warum also nicht einen geschichtsträchtigen Ort, eine frühere Kultstätte, für derartige „Schreckensinszenierungen“ nutzen?

      Heribert war müde und gähnte.

      „Wir werden es noch herausfinden, Olav!“ Doch er war keinesfalls so optimistisch, wie er sich den Anschein gab. Plötzlich fiel ihm etwas ein, es hatte schon die ganze Zeit in ihm gearbeitet.

      „Hast du schon ein Ergebnis zu dem Zigarillostummel vorliegen, den ich dir zwecks DNA-Abgleich habe zukommen lassen?“

      „Ähm – noch nicht. Die werden sagen, dass sie viel zu tun haben, ich werde denen mal Beine machen.“ Sein Gesicht sprach allerdings Bände, und Heribert ahnte, dass Olav es vergessen und das Zigarillostück noch nicht weitergereicht hatte. Diese Nachlässigkeit ärgerte ihn.

      „Wenn beide Morde auf das Konto von Lemm gehen und sich an diesem Zigarillo ebenfalls seine DNA-Spuren finden lassen, dann hat er bereits seine nächsten potenziellen Opfer im Visier, verstehst du? Meine Freunde in Kassel! Und das wäre dann auch ein Indiz dafür, dass er seine Opfer inzwischen gezielt aussucht. Botho Lange fühlt sich seit Walter Zellers Ermordung verfolgt!“

      Witzbold blickte alarmiert auf. Genau das hatte Heribert erreichen wollen. Olav konnte, von ihm aus, schlafen, wenn der Fall gelöst war. Er würde ihm Dampf unterm Arsch machen. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein.

      „Weißt du schon, wer die mögliche Sonderkommission leiten wird?“

      Witzbold machte ein erstauntes Gesicht. „Na, ich vermutlich und ein Kollege, ein Fallanalytiker aus Wiesbaden!“

      Er registrierte Heriberts skeptischen Blick.

      „Und wenn nicht ich, dann werden zumindest alle Fäden bei mir zusammenlaufen, sprich, ich werde über den jeweiligen Ermittlungsstand genaustens im Bilde sein. Muss ich dir doch nicht sagen, du kennst doch den Ablauf.“

      „Das tue ich. Bloß, wozu brauchst du dann noch mich?“

      „Du weißt es – du hast es selbst gesagt. Niemand kennt Abraxas Lemm besser als du.“

      Heribert musste plötzlich über Olavs harmloses Gesicht grinsen.

      „Aber vor allem brauchst du mich, weil du dir Rückendeckung erhoffst, wenn die aus Wiesbaden anrauschen.“

      Witzbold antwortete nicht. Stattdessen legte er verschwörerisch seinen Zeigefinger an die Lippen und grinste zurück.

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