Günter Neuwirth

Dampfer ab Triest


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Mythologie.

      Alles andere war Humbug.

      Als er in der prallen Mittagssonne vor dem weißen Schiff stand, dachte er an den Fährmann Charon, der die Seelen der Toten über den Styx in den Hades übersetzte. Die einzige Reise, für die sich lohnte, Münzen zu entrichten.

      Wie viele Menschen würden sterben, wenn das Schiff von einem Orkan gegen schroffe Klippen geworfen würde? Oder wenn auf hoher See ein großes Leck in die Bordwand geschlagen würde? Vielleicht durch eine mächtige Explosion?

      Sollte er vorsorglich die Rettungsboote manipulieren?

      War für eine amüsante Idee!

      *

      Bruno las den eben verfassten Brief, setzte noch einen Beistrich und blies auf das Papier, damit die Tinte schneller trocknete. Er hatte sich Zeit genommen und Mühe gegeben, die Zeilen aufzusetzen.

      Luise hatte ihm in den letzten vier Wochen vier Briefe geschrieben, und jeder einzelne war nicht nur Schrift auf weißem Papier, es waren in Worte gekleidete literarische Perlen von sinnlicher Schönheit. Von Anfang an hatte Bruno Luises geradezu zauberhafte Poesie bewundert. Er war außerstande, solche Briefe wie Luise zu schreiben, diese Fähigkeit fehlte ihm. Er konnte sich lediglich bemühen, ihren hohen Geschmack nicht zu beleidigen. Und bislang war es ihm gut gelungen. Behauptete zumindest Luise.

      Bruno faltete den Brief und steckte ihn in ein Couvert. Mit klarer Schrift schrieb er die Adresse ihrer Stadtwohnung darauf. Natürlich würde er niemals einen persönlichen Brief an die Adresse ihres Landhauses schicken. Ihr Mann war zwar die meiste Zeit des Jahres auf Reisen, aber wenn er zu Hause war, dann kontrollierte er Luises Korrespondenz. Bruno schüttelte den Kopf. Wie hatte eine so falsche Ehe bloß geschlossen werden können? Nichts, rein gar nichts verband Luise mit ihrem Mann, außer die vor Gott und dem Kaiser geschlossene Ehe, in die sie als halbwüchsiges Mädchen gedrängt worden war. Hier der bullige Freiherr von Callenhoff, ein Großwildjäger, ein seelen- und geistloser Tyrann, der sich ungeniert in aller Öffentlichkeit ordinäre Mätressen hielt, dem allein Macht und Geld Vergnügen bereiteten, und dort die feinsinnige und edle Tochter des alten Unterkrainer Adelsgeschlechts von Kreutberg. Diese Ehe war von vornherein dazu verdammt gewesen, unglücklich zu sein. Ehen wie diese waren für Bruno der Anlass, unverheiratet zu bleiben.

      Vier Wochen war Luise zu Besuch bei ihrer älteren Schwester in der Nähe von Brünn gewesen. Diese hatte einen mährischen Adeligen geheiratet, in dessen Landhaus sie zusammen mit ihren Kindern lebten. Die vier schönen Töchter des Barons Kreutberg waren allesamt standesgemäß verheiratet worden, Luise an die obere Adria an den Freiherrn von Callenhoff. Die Wünsche und Sehnsüchte der jungen Baronessen waren nicht der Rede wert gewesen. In zwei Tagen würde sie von ihrer Reise zurückkehren. Mit steigender Intensität hatte sie in ihren Briefen von der Vorfreude geschrieben, Bruno wiederzutreffen. Und jetzt würde er nicht auf dem Bahnsteig warten können, wenn sie ankam, sondern befand sich auf einem Schiff irgendwo inmitten der Adria. Bruno wusste, wie sensibel Luise war, er ahnte ihre Verzweiflung, ihn nicht zu treffen, er sorgte sich um sie. Einen Brief zu schreiben, war das Mindeste und gleichzeitig das Äußerste, was er in dieser Situation tun konnte.

      Als er an Bord gekommen war, hatte er sich gleich in seine Kabine zurückgezogen, seine Koffer abgestellt und sich an das kleine Tischchen gesetzt, um zu schreiben. Rund eine halbe Stunde saß er nun daran. Bruno klebte das Couvert zu und schrieb als Absender seinen Decknamen.

      Es klopfte. Bruno erhob sich und öffnete die Kabinentür. Vor ihm stand der Schiffsjunge.

      »Ja, bitte?«

      »Der Kapitän wünscht Sie zu sprechen.«

      »Ich komme.«

      Bruno schlüpfte in sein Sakko und steckte den Brief ein. Nach der Unterredung würde er noch zum Hafenpostamt laufen. Einerseits, um den Brief aufzugeben, und andererseits, um nachzusehen, ob das erwartete Telegramm aus Wien eingetroffen war. Natürlich hatte er bei seinem ehemaligen Kommilitonen Robert Bernsteiner im Ministerium angefragt, ob er für den bevorstehenden Auftrag noch vertiefende Informationen bekommen könnte. Sie hatten gemeinsam in Graz Vorlesungen bei Professor Gross besucht und waren in Brunos Grazer Jahr dicke Freunde geworden. Robert bekleidete mittlerweile als Jurist im Ministerium ein bedeutendes Amt. Die beiden schrieben einander regelmäßig, und einmal hatte Robert mit seiner Familie Bruno in Triest besucht.

      Der Schiffsjunge flitzte die Treppe zum Brückendeck hoch und öffnete Bruno die Tür. Bruno trat auf die uniformierten Männer zu und nahm Haltung an.

      »Guten Tag, Herr Kapitän, meine Verehrung, die Herren. Bruno Zabini meldet sich wie befohlen zur Stelle.«

      Kapitän Karl Freiherr von Bretfeld nahm Bruno in Augenschein. »Ah, ja, sehr gut. Die Offiziere bleiben hier, alle anderen bitte ich, die Brücke für die Dauer der Unterredung zu verlassen.«

      Die anwesenden Herren waren von diesem Befehl überrascht, führten ihn aber unverzüglich aus. Der Kapitän, der Erste, der Zweite und der Dritte Offizier standen Bruno gegenüber, drei weitere Seeleute verließen die Brücke. Der Kapitän zog aus der Tasche seines Uniformrockes einen Brief hervor und reichte ihn dem Ersten Offizier.

      »Sie sind von der Triester Polizei, Signor Zabini?«

      »Jawohl, Herr Kapitän. Inspector I. Klasse des k.k. Polizeiagenteninstituts.«

      »Der Brief des Statthalters ist in mancher Hinsicht dunkel, in anderer sehr konkret. Dunkel, wenn es um die Bedrohungslage des Herrn Grafen geht, sehr klar, was den Auftrag des Statthalters an Sie betrifft.«

      »Herr Kapitän, ich hoffe sehr, dass meine Anwesenheit an Bord zu keinen Unannehmlichkeiten führt.«

      »Das hoffe ich auch. In jedem Fall teilt mir die Direktion des Österreichischen Lloyds mit, dass Ihre Anwesenheit ausdrücklich erwünscht ist und ich Sorge zu tragen habe, dass Sie bei aller nötigen Diskretion Ihre Aufgabe erfüllen können.«

      »Ich danke im Namen der Polizeidirektion für die Kooperation.«

      »Sobald wir ablegen, befinden wir uns nicht mehr im Hoheitsgebiet der Stadt Triest. Ihre Amtsgewalt erlischt damit.«

      »Das ist mir klar.«

      »Sie wissen, dass ich an Bord absolute Befehlsgewalt habe?«

      »Jawohl.«

      »Der Plan ist, dass Sie sich mit verdeckter Identität an Bord aufhalten?«

      »Das ist der explizite Wunsch Seiner Exzellenz des Statthalters. Ich gebe mich als Mitarbeiter des Lloyds aus, der an Bord ist, um eine technische Inspektion des Umbaus der Thalia während der Fahrt durchzuführen.«

      Der Kapitän zog die Augenbrauen hoch. »Wenn Sie diese Geschichte gut erzählen, werden die Passagiere sie wohl glauben, aber achten Sie auf Fragen der Bordmannschaft. Wenn Sie falsche Antworten geben, werden die Leute skeptisch.«

      »Ich bin vorbereitet. Mein langjähriger Freund und Billardpartner Lionello Ventura ist Schiffbauingenieur im Lloydarsenal. Er arbeitet im Konstruktionsbüro und war auch beim Umbau der Thalia beteiligt. Sämtliche Rohrpläne der Wasserversorgung sind auf seinem Reißbrett entstanden. Ich bin zwar Polizist, habe aber ein großes Interesse an Technik und beschäftige mich seit Jahren mit den Grundlagen des Schiffsbaus.«

      »Und warum geben Sie sich nicht als Mitarbeiter des Lloyds auf Urlaubsreise aus? Das wäre doch einfacher.«

      »So ist es leichter zu erklären, wenn ich Bereiche betrete, die normal für Fahrgäste verboten sind. Etwa den Kesselraum. Oder Lagerräume. Ich brauche volle Bewegungsfreiheit an Bord. Und im Fall des Falles brauche ich auch Zugang zur Marconi-Station, um schnell über Funk Mitteilungen zu versenden.«

      »Sie haben sich also Ihre Identität wohl überlegt.«

      »So gut es in der kurzen Zeit möglich war.«

      »Haben Sie einen entsprechenden Pass?«

      »Ich reise unter meinem echten Namen, daher kann ich auch meinen Pass verwenden. Die Direktion des Lloyds hat mir die nötige Befugnis für die Nutzung