verlieh. Wie wohltuend war es, von einer Sache restlos überzeugt zu sein. Viele Menschen würden ihrem Beispiel folgen, davon waren sie überzeugt, diese positive Kraft würde wachsen wie eine schöne Blume, und ihre Wurzeln würden eines Tages die gesamte Welt umspannen. Alles würde besser werden. Der Klimawandel gestoppt. Die Eisbären hätten wieder ihren Platz auf der Welt, den sie seit Jahrtausenden bewohnten, die Ressourcen würden nicht mehr verschwendet.
In diesen Tagen unterstützten Amanda und Fynn auch Experten bei ihren Feldstudien im Gelände. Darunter waren Biologen, die sich vor allem für tote Bäume interessierten, oder Ornithologen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Verbreitung und das Optimieren der Lebensverhältnisse von Weißrückenspechten zu erforschen. Amanda und Fynn erfuhren von Schachtelhalmkolonien, die über 300 Jahre alt waren, sich ausbreiteten wie riesige Teppiche und doch eine einzige Pflanze als Ursprung hatten. Sie hörten von Schluchtgemsen, die abgelegene Bergtäler bevölkerten und die kaum jemand zu Gesicht bekam, weil sie so scheu waren.
Einmal begleiteten sie einen introvertierten Biologen, der sich seit über 30 Jahren mit Pflanzensystemen in Feuchtgebieten beschäftigte. Er hatte 20 Bücher zu diesem Thema geschrieben und galt als Koryphäe auf diesem Gebiet. Als sie ihm durch die Natur folgten, fielen ihnen seine trägen Schritte auf und seine Augen, die stets auf der Suche nach interessanten Pflanzen waren. In seiner Hand hielt er eine Lupe, deren Durchmesser dem eines Fußballs nahekam. In einem Moor sank er unvermittelt auf die Knie und schien Amanda und Fynn, die neben ihm standen, gänzlich zu vergessen. Er bemerkte auch nicht, dass sich seine Hose an den Knien gerade mit Wasser vollsog. Vor seinen Augen hielt er die Lupe und flüsterte mehr zu sich selbst als zu seinen Begleitern: »Immer wieder verrückt, dieser Einfallsreichtum, diese Überlebensstrategien.« Dann, als erwache er plötzlich aus seinen Gedanken, hob er den Kopf. »Das müsst ihr euch ansehen. Es ist unglaublich.«
Durch das Glas entdeckten sie eine blassgrüne Pflanze mit zwei Seitenblättern, die in rötliche Tentakel übergingen und an deren Enden kleine Tröpfchen hingen, die in der Sonne funkelten.
»Ein Spezialist für extreme Standorte, für kargste Lebensbedingungen. Der Sonnentau. Er wartet, bis ein Insekt von seinen glitzernden Tropfen angelockt wird. Die Tropfen täuschen Nektar vor. Ameisen oder Fliegen lassen sich davon blenden. Und zack, werden die Tentakel zu Fangarmen, aus denen es kein Entkommen mehr gibt. Das Tierchen wird in seine Bestandteile aufgelöst und ermöglicht dem Sonnentau, an einem Standort zu überleben, der so sauer ist, dass die meisten anderen Pflanzen, die hier keimen, kurz danach eingehen.«
Amanda und Fynn erfuhren von Dingen, von denen sie bis dahin nicht gewusst hatten, dass es sie überhaupt gibt. Von Hangschluchtwäldern und Tuffquellen etwa oder dem Reich der Pilze, die totes Holz in seine Bestandteile zerlegten und zu Erde werden ließen.
In diesen Tagen verbrachten sie ihre freie Zeit meistens im Haus der Großmutter. Seit er fünf war, besaß Fynn im ersten Stock des Hauses ein gemütliches und ruhiges Zimmer. Es war seit jeher sein sicherer Hafen und Zufluchtsort. Und hier ließ sich bestens studieren, lesen und nachdenken.
Amandas und Fynns Hunger nach Wissen über die Flora und Fauna war riesig. Neben dem Bett türmten sich bald Dutzende Zeitschriften, Facharbeiten und Broschüren. Sie wollten alles über die Natur und ihre Zusammenhänge wissen, denn wie stand es im Vorwort eines dieser Bücher? »Nur was ihr kennt, könnt ihr auch schützen.«
»Sagenhaft«, flüsterte Amanda an einem regnerischen Sonntagvormittag, als sie ihre Beine unter der warmen Decke ausstreckte und ein Buch über die Geheimnisse der Wälder zur Seite legte. »Das glaubst du gar nicht. Wir können so viel von der Natur lernen, Fynn. So viel über unsere Haltung zur Welt. Die Tanne zum Beispiel. Sie kann jahrzehntelang im Schatten eines Waldes stehen und wird dadurch nicht größer als drei, vier Meter. Und obwohl sie beinahe kein Licht bekommt, gibt sie nicht auf. Sie macht schmalste Jahresringe, kleinste Triebe und bildet winzige Wurzeln aus. Aber tief in ihr schlummert eine Kraft, die darauf wartet, dass ein Sturm über das Land zieht oder schwerer nasser Schnee fällt, der sich wie Blei auf die Äste jener Bäume legt, die sich hoch über ihr befinden. Wenn die großen Äste oder Kronen schließlich zu knacken beginnen und abbrechen und sich ein Lichttor öffnet, geschieht es. Die Ereignisse explodieren. Denn kaum spürt die Tanne das Licht über ihrer mickrigen Krone, ist es, als ob ein Schalter in ihr umgelegt worden wäre. Allmählich, aber unaufhaltsam streckt sie die Wurzeln, die Triebe werden länger und länger und die Jahresringe breiter und breiter. In ihrer ganz eigenen Geschwindigkeit schießt sie dem Himmel entgegen und ist in zehn Jahren beinahe so groß wie jene Tannen, die schon immer genug Licht bekamen. Das ist doch unglaublich, Fynn. Diese Strategie könnte eine Metapher für uns alle werden. Nie aufgeben, immer weiter gehen, auch wenn die Schritte noch so klein sind. Und am Ende sieht man das Licht, den Gipfel, das Ziel, man muss nur beharrlich sein und mutig.«
Auf einmal wurde sie still, blickte Fynn tief in seine braunen Augen und sagte: »Glücklicher, als ich jetzt bin, kann ich vermutlich gar nicht mehr sein.«
5. Kapitel
Um die Bekanntheit der Familie zu steigern, ließ der Verein von einer Werbeagentur ein Logo erstellen. Dieses Logo fand sich später überall auf den Broschüren, an Rednerpulten, wenn Vorträge gehalten wurden, als fixer Bestandteil von Werbungen in Zeitschriften und Magazinen. Es zeigte die Zeichnung einer Gelbbauchunke mit großen, lächelnden Augen, tastenden Schwimmfüßen und strahlendem Mund. Darunter konnte man lesen: »Schenk der Natur ein Lächeln«.
Die Popularität der Familie und ihre Vorbildwirkung waren so groß, dass sich das Vermögen auf dem Vereinskonto bald verdoppelte. Noch im selben Jahr erwarben sie eine 117 Hektar große Feucht-, Streu- und Magerwiese, die sich im Hochgebirge befand. An einem wolkenlosen Oktobertag streiften Amanda, Fynn und einige Mitglieder der Familie durch dieses Gebiet und staunten über die Landschaft mit ihren Sträuchern und Gräsern, deren sommerliches Grün allmählich in ein dunkles Braun überging. Fynn stand mit seinen Gummistiefeln gerade am Rand eines wassergefüllten Moores, in dem sich das tiefe Blau des herbstlichen Himmels spiegelte. Und als er nicht weit entfernt die ockerbraunen Heidelbeerstauden sah, die wie ein riesiger Teppich das Gelände bedeckten, wusste er, dass er genau das immer gewollt hatte. So oft wie möglich in der Natur zu sein und den Rhythmus der Jahreszeiten zu spüren.
Er jauchzte vor Freude. »Halleluja, ist das schön!«, rief Fynn seinen Freunden zu, die sich lachend über seinen Gefühlsausbruch zu ihm umdrehten.
6. Kapitel
Später würden alle, die dabei gewesen waren, darin übereinstimmen: Es waren diese Augenblicke, diese Minuten, die alles in wahrlich gigantische Sphären katapultiert hatten.
Es geschah bei einem dieser Treffen, die von der Familie alle drei Monate abgehalten wurden. Dabei musste sie von Mal zu Mal in eine noch größere Halle wechseln, da die Familie inzwischen auf über 8.000 Mitglieder angewachsen war und über die Hälfte davon an diesem Abend dabei sein wollte. Sie hatten eine große Tennishalle gemietet, die 5.000 Menschen fasste. Eine Sitzreihe folgte auf die andere und vorn, auf dem Podest, stand ein langer Tisch, der mit einem weißen Tuch bedeckt war. Die Treffen dienten dazu, Projekte vorzustellen, Referenten erklärten Untersuchungen im Schutzgebiet, und es wurden Pläne für die Zukunft erörtert. Aber es gab auch Raum für Visionen, die jeder der Anwesenden vortragen konnte und die realisiert wurden, wenn sie die Zustimmung der Mehrheit fanden. Nach den Berichten wurde ein Scheinwerfer auf ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren gerichtet, das eine Jeans und ein weißes T-Shirt trug. Es stand schüchtern am Rand des Podiums und hielt ein Mikrofon in der Hand, um es dem ersten Visionär zu bringen. Kurz war es still in der Halle. Das Mädchen blickte suchend in die Menge, als sich in der ersten Reihe ein großer, schlanker Mann erhob. Sein Haar war kurzgeschnitten und graumeliert. Er trug einen schlichten schwarzen Maßanzug, ein weißes Hemd und lächelte einnehmend. Er nahm das Mikrofon entgegen und räusperte sich kurz. »Vielen Dank für die Gelegenheit, hier sprechen zu dürfen.« Schon nach dem ersten Satz spürten es fast alle in der Halle. Dieser Mann war außergewöhnlich. »Ich heiße Max Bonnermann«, setzte er fort. »Ich habe lange für eine PR-Firma gearbeitet und dabei Privatpersonen, Firmen und sogar Staaten betreut, um sie in der Öffentlichkeit ins rechte Licht zu setzen. Ich war dabei